30 Jahre Leibniz-Sozietät – 30 Jahre Wissenschaftsentwicklung.
Jahrestagung der Leibniz-Sozietät am 19.10.2023
Produktform: Buch / Geheftet
Dieser Band ging aus der Jahrestagung am 19. Oktober 2023 zum Thema "30 Jahre 30. Jahre Leibniz-Sozietät - 30 Jahre Wissenschaftsentwicklung", der dritten und damit letzten Veranstaltung anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V., hervor.
In der ersten Veranstaltung, die unmittelbar nach dem Jahrestag der Gründung der Sozietät am 15. April 1993 unter dem Titel "Gründung und Entwicklung der Leibniz-Sozietät stattfand, hatten wir Vertreter der Gründergeneration gehört, die über ihre Motive und Ziele, die Gelehrtengesellschaft der Akademie der Wissenschaften fortzuführen, berichteten. In diesem Zusammenhang wurde auch festgestellt, dass die Geschichte der Leibniz-Sozietät die in den letzten Jahren zu verzeichnende weltweite Umgestaltung gesellschaftlicher Systeme widerspiegelt, deren weiterer Verlauf und deren Auswirkungen durchaus offen und damit gestaltbar sind.
Zum Leibniz-Tag erschien auch die Chronik der Sozietät, die ein beeindruckendes Bild über die Arbeit der Sozietät in dreißig Jahren gibt.
In diesem Zusammenhang wurden auch die Möglichkeiten der Wissenschaftsgeschichte erwähnt. Gerade die Beschäftigung mit Wissenschaftsgeschichte in der Gelehrtengesellschaft gibt auch Forschern, die nicht mehr in ihrem Labor arbeiten können, die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen und vorzustellen. In Kooperation mit Kollegen, die schon in früheren Stadien ihres Berufslebens zu wissenschaftshistorischen Themen gearbeitet haben, können Perspektiven entwickelt werden, die innovativ sind und auch auf aktuelle Forschungen zurückwirken. Wissenschaftshistorische Forschungen sind keinesfalls rückwärtsgewandt, auch wenn sie sich mit zurückliegenden Zeitabschnitten befassen, sondern sie kontextualisieren in diesen verwendete Methoden und erreichte Ergebnisse.
Mit der Jahrestagung "30 Jahre 30. Jahre Leibniz-Sozietät - 30 Jahre Wissenschaftsentwicklung" wurde ein Schritt auf diesem Weg gegangen. Es sollte um Geschichte von Wissenschaften gehen, allerdings in einem unmittelbar zurückliegenden Zeitraum, der bis an die Gegenwart heranreicht und den Historiker Zeitgeschichte nennen würden. Die Referenten der Tagung waren überwiegend keine reinen Wissenschaftshistoriker, sondern Wissenschaftler, die sich auf die Betrachtung der Entwicklung in den letzten drei Jahrzehnten, teilweise auch darüber hinaus, eingelassen haben. Das ist in einer Zeit,
in der es in vielen Wissenschaften üblich geworden ist, nur Publikationen der letzten fünf Jahre ernst zu nehmen, keinesfalls selbstverständlich.
Sobald man sich als Vertreter eines bestimmten Fachgebiets mit Wissenschaftsgeschichte befasst, trifft man auf paradoxe Erscheinungen.
Als wissenschaftshistorisches Paradoxon kann die Tatsache bezeichnet werden, dass man wahre Aussagen zu falschen Feststellungen über ein bestimmtes F orschungsobjekt trifft. In früheren Zeiten angestellte Überlegungen können vom heutigen Standpunkt der Wissenschaft falsch gewesen sein, dennoch wurden sie seinerzeit für richtig gehalten und es obliegt uns, die Bedingungen ihres Entstehens und vielleicht auch ihren Nutzen einzuschätzen und sie zu kontextualisieren. Dies führt auch zur Erkenntnis von Prozessen der Schaffung von Wissen, die für die heutige Forschung von Nutzen sein kann.
Paradox erscheinen uns auch mitunter die Bedingungen, unter denen geforscht und wissenschaftlich gearbeitet wurde. Vor dreißig Jahren begannen wir, uns mit Kollegen per E-Mail auszutauschen, was anfangs noch gar nicht selbstverständlich und akzeptiert war. Wenn man in Berufungsverhandlungen vor dreißig]ahren einen Scanner und entsprechende Software forderte, um größere Textmengen in digitaler Form zur Verfügung zu haben, wurde das zwar akzeptiert, aber als sehr merkwürdig betrachtet. Die meisten älteren Kollegen kennen wahrscheinlich irgendwelche damals noch nicht zum Allgemeingut gehörende Geräte oder Bedingungen, die heute selbstverständlich oder schon wieder obsolet geworden sind.
Auch die meisten Wissenschaftsdisziplinen haben sich stark verändert, einige Methoden und Forschungsgegenstände sind inzwischen verschwunden, andere, vor dreißig lahren undenkbare sind hinzugekommen. Die künstliche Intelligenz verändert gerade die Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen. Daneben gibt es auch Kontinuitäten, die fachliche ldentitäten und persönliche Lebensläufe prägen.
Diese vielfältige, widersprüchliche, aber auch Anlass zum Optimismus im leibnizschen Sinne gebende Entwicklung der letzten dreißig jahre war Gegenstand der Jahrestagung. Wissenschaftsgeschichte als Zeitgeschichte, Methodenreflexion, aber auch persönliche Erzählungen sind mögliche Zugänge zur Betrachtung dieses Gegenstands. Einige Kollegen fassten das Thema der Jahrestagung auch als Aufforderung zur Berichterstattung auf. Alte Gewohnheiten wirken weiter und natürlich müssen wir das auch akzeptieren. In den Beiträgen werden unterschiedliche Herangehensweisen gewählt, die alle ihre Berechtigung haben und zum Gelingen beitragen. Einige Beiträge enthalten Einschätzungen oder auch Vorschläge, die der individuellen Sicht der Autoren entsprechen.
Selbstverständlich können wir in diesem Band nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl der in der Leibniz-Sozietät vertretenen Disziplinen vorstellen.
Anhand der Themen „Ordnungsbildung“ und „Einfachheit“ zeigen Werner Krause und Erdmute Sommerfeld die Bedingungen für die Herausbildung der Denkweise der lnterdisziplinarität in der Psychologie und die Rolle der Leibniz-Sozietät in diesem Zusammenhang. Jonas Schmidt-Chanasit behandelt die Entwicklung der DNA-Sequenzierungtechnologien und ihre Rolle bei der Entdeckung und ldentifizierung bisher unbekannter Krankheitserreger in den letzten Jahrzehnten.
Axel Müller und Reinhard Greiling gehen von den großen Herausforderungen an die Erkundungs- und Lagerstättengeologie durch die plötzlich extrem steigende und beschleunigte Nachfrage nach Rohstoffen wie Lithium, Kobalt, Nickel, Kupfer und Graphit aus und weisen auf Möglichkeiten der interdisziplinären Kooperation mit anderen Naturwissenschaften und den Geistes- und Sozialwissenschaften hin.
Im Beitrag von Dietrich Spänkuch und Heinz Kautzleben wird über die Entwicklung des Arbeitskreises Geo-, Montan-, Umwelt-, Weltraum- und Astrowissenschaften und die konzeptionellen Fortschritte der letzten Jahre im Bereich Klimaforschung berichtet.
Ulrich Busch charakterisiert die gegenwärtige Gesellschaft als eine Wirtschaftsgesellschaft und wirft von daher das Problem der unzureichenden Repräsentanz der Wirtschaftswissenschaftler in der Leibniz-Sozietät auf.
Im Beitrag von Gerda Haßler ging es um die Entwicklung der Sprachwissenschaft zwischen den Polen der Introspektion und der Empirie, zwischen Universalismus und Relativismus, Formalismus und Funktionalismus, clie zu einem Pluralismus der Methoden und Gegenstände der Forschung führte.
Dorothée Röseberg begründet die These, dass sich Kulturtheorien und Kulturwissenschaften an den Rändern etablierter Disziplinen mit neuen spezifischen Blickrichtungen und Forschungsfeldern entwickelt und sich als Brücke zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften etabliert haben.
Im Beitrag von Dieter Segert werden Anpassungen in der Politikwissenschaft an die Hindernisse auf dem Weg einer unaufhaltsamen Verbreitung der Demokratie und der Weg der Theorie kritischer Demokratieforschung behandelt.
Hans-Christoph Rauh betrachtet die Behandlung philosophischer Themen in der dreißigjährigen Geschichte der Leibniz-Sozietät vor allem anhand der Würdigung von Philosophen und Vertretern nahestehender Disziplinen anlässlich von deren Jubiläen. Kritisch stellt er dabei einige Lücken fest.
Hubert Laitko behandelt in seinem Beitrag zum Thema „Die Leibniz-Sozietät – ein Ort wissenschaftshistorischer Besinnung“ die wissenschaftshistorische Reflexion als eine der unverzichtbaren Strategien, deren Einsatz den disziplinenübergreifenden Austausch ermöglicht oder unterstützt. Sie macht die Differenz der kommunizierenden Disziplinen als ein Phänomen geschichtlich entstandener Arbeitsteilungen verständlich und führt sie damit auf gemeinsame Wurzeln zurück.
Die in diesem Band vertretenen Beiträge von Werner Krause und Erdmute Sommerfeld, Jonas Schmidt-Chanasit, Axel Müller und Reinhard O. Greiling, Dietrich Spänkuch und Heinz Kautzleben, Ulrich Busch, Gerda Haßler und Dieter Segert entstanden auf der Grundlage der auf der Tagung gehaltenen Vorträge die teilweise erweitert oder auf bestimmte Aspekte fokussiert wurden. Sie verstehen sich als Beispiele der Darstellung von Entwicklungen.
Da vielleicht auch andere Kollegen für ihre Wissenschaften solche Darstellungen liefern können und wollen, erging der Aufruf, sich am Band der Sitzungsberichte zu beteiligen, dem Dorothee Röseberg und Hans-Christoph Rauh gefolgt sind. Der Band schließt mit dem Beitrag von Hubert Laitko, der auf der jahrestagung von dem Ende letzten jahres verstorbenen Kollegen Horst Kant verlesen und von der Herausgeberin gemeinsam mit dem Autor bearbeitet wurde.
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Die Frage, ob die Leibniz-Sozietät ein Traditionsverein der Akademie der Wissenschaften sein soll oder ob sie sich als Gemeinschaft an interdisziplinären Fragen interessierter und forschender Wissenschaftler versteht, ist jedoch inzwischen beantwortet. Nachdem sie ihre Aufgabe, den mit der Auflösung der Gelehrtengesellschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR entlassenen Mitgliedern eine wissenschaftliche Heimat zu geben, erfüllt hat, kann ihre Zukunft nur in der Schaffung von relevanten Forschungs- und Diskussionszusammenhängen bestehen, die für die Mitglieder attraktiv sind und die der Verantwortung der Wissenschaft gerecht werden.weiterlesen
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