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Alles kann, nichts läuft

Warum wir immer weniger Sex haben

Produktform: E-Buch Text Elektronisches Buch in proprietärem

Viele würden zustimmen, dass wir in einer der freizügigsten Zeiten der Menschheit leben. Sex scheint überall und jederzeit verfügbar. Praktisch jeder kann in wenigen Sekunden auf unendlich viele, fantasieanregende Bildchen zurückgreifen oder Filme ansehen, die wirklich nichts mehr der Fantasie überlassen. Im öffentlichen Raum werden viele Produkte durch ein tiefes Dekolletee oder einen eindeutigen Blick beworben. Sex scheint überall. In der Tat ist Sexualität in den letzten 100 Jahren wesentlich sichtbarer geworden; das gilt aber nicht nur für einzelne sexuelle Praktiken, auch die Bandbreite der sichtbaren sexuellen Aktivitäten hat zugenommen. Mit „50 Shades of Grey" konnte zum Beispiel eine Romanze mit BDSM-Hintergrund großen Anklang bei der breiten Masse finden, etwas, was vor 100 Jahren undenkbar gewesen wäre. Neben der Erhöhung der Sichtbarkeit ist Sex auch verfügbarer geworden. Sex wurde vom Korsett der Ehe befreit und wird heute fast ausnahmslos auch zwischen unverheirateten Menschen akzeptiert. Rein sexuelle Beziehungen, also solche in denen kein Interesse an einer romantischen Partnerschaft bestehen, sind verbreitet. Um die Anbahnung dieser Beziehungen zu erleichtern, wurden Apps entwickelt, die keinem anderen Zweck dienen als schnelle und direkte Kontaktaufnahmen zu ermöglichen. Man könnte also auf die Idee kommen, dass man immer und überall an einen Partner kommen könnte. Sexualität im Rahmen von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wurde ebenfalls entkriminalisiert und zunehmend gesellschaftlich anerkannt; auch hier gibt es also weniger Einschränkungen. Dieser Wegfall von Beschränkungen kam nicht etwa aus dem Nichts, sondern war das Resultat wichtiger gesellschaftlicher Bewegungen, besonders dem Feminismus und der 68-er Bewegung. Der Feminismus forderte mehr Selbstbestimmung von Frauen in ihrer Sexualität und mehr Anerkennung von weiblicher Sexualität. Die 68-er Bewegung versuchte die konservative Gesellschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Umdenken zu zwingen und setzte dabei nicht selten auf sexuelle oder sexualisierte Kampagnen, um das Establishment zu provozieren. Sexualität war dabei von einem Tabu zu einem Mittel der Aufklärung mutiert. Einige gingen sogar so weit zu fordern, dass die kindliche Sexualität gefördert werden müssen, um Bürger*innen für eine freiere, demokratische Gesellschaft zu erziehen. Die 68-er Bewegung bediente sich dabei unter anderem bei Freud, der Sexualität als treibende Kraft des Menschen propagiert hatte. Er glaubte durch mehr Akzeptanz von Sexualität psychische Störungen verhindern zu können. Die Bewegungen, die zu einer Enttabuisierung von Sexualität führten, werden erläutert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Sexualität innerhalb dieser Bewegungen eine bestimme Funktion zugeschrieben wurde (z.B. Trieb oder Provokation), die die Art, wie Sexualität gelebt wird beeinflusste. Dem werden die Funktionen von Sexualität gegenübergestellt, die von der aktuellen Forschung identifiziert wurden (z.B. Partnerschaftsanbahnung und -stabilisierung). Die Entwicklungen der letzten Jahre können zu dem Schluss verführen, dass wir heute all den Sex haben, den wir haben wollen. Tatsächlich zeigt sich aber seit einigen Jahren in einer ganzen Reihe von internationalen Studien - und das bereits lange vor Corona - dass die Sexualität nicht zu, sondern abnimmt. Menschen in den westlich geprägten Ländern beginnen später damit Sex zu haben und haben anschließend weniger Sex als vor 10, 20 oder 30 Jahren. Dieser Rückgang zeigt sich besonders bei Menschen, die nicht in einer Beziehung leben. Was sind die Gründe dafür, dass Sexualität abnimmt? Wie kann es sein, dass Sex, der von manchen gerne zur schönsten Sache der Welt erhoben wird, zwar möglich ist aber trotzdem nicht praktiziert wird? Zunächst muss definiert werden was Sex ist. Dabei stellt sich die Frage bei welchen Handlungen wir von Sex reden. Es wird gezeigt, dass die Definition von Sex kulturabhängig ist und es durchaus keine Einigkeit darüber gibt, ab welchem Punkt wir von Sex sprechen. Weit verbreitete Definitionen von Sexualität schließen zum Beispiel lesbische Paare oder Menschen mit bestimmten Erkrankungen aus. Andere Definitionen erlauben es Sex auf einer Art und Weise zu beschränken, die es erlaubt Jungfrau zu bleiben, obwohl man Anal- oder Oralsex hat. Die Schwierigkeit Sex zu definieren, ist mit dafür verantwortlich, dass Sex ein schwer erforschbarer Prozess ist. Sex ist ein in den Wissenschaften überraschend schlecht verstandener Teil des menschlichen Lebens, weil er mit vielen Tabus umgeben ist. Das Buch erläutert die besonderen Schwierigkeiten bei der Erforschung von Sexualität, neben der Schwierigkeit direkte Messungen von sexuellem Verhalten vorzunehmen, gehören ethischen Grenzen und stark beschränkte Möglichkeiten echte Experimente durchzuführen, sowie selbst in der Wissenschaft verbreitete Tabus oder die weitverbreitete Annahme, dass es bei allen anderen auch so laufen würde, wie bei einem selbst und sich deshalb eine großangelegte Untersuchung nicht lohnen würde. Im Anschluss werden die verschiedenen Gründe für die Abnahme von Sexualität ausgeführt. Dabei zieht sich die Frage durch die Erläuterungen ob der Rückgang von Sexualität eher als negative oder positive Entwicklung betrachtet werden sollte. Sind wir so (sexuell) befriedigt, wie wir sein können oder haben sich neue Probleme entwickelt, die einer erfüllenden Sexualität im Wege stehen? Zu den möglichen Gründen weshalb Sexualität abgenommen haben könnte, gehört eine vermehrte Nutzung alternativer, sexueller Praktiken mit dem Partner, die einfach nicht als sexueller Akt durchgehen. In diesem Fall, wäre es also gar nicht zu einer echten Abnahme des sexuellen Verhaltens gekommen, vielmehr hätten Menschen einfach anderen Sex, der bisherigen Definitionen nicht mehr gerecht wird. Eine andere Erklärung nimmt an, dass weniger partnerschaftlicher Sex stattfindet, weil Menschen mehr auf den „Einzelbetrieb" ausweichen, diese Entwicklung könnte besonders durch eine Zunahme des Pornokonsums unterstützt werden. Dabei stellt sich die Frage ob Selbstbefriedigung und Pornos die partnerschaftliche Sexualität ersetzen oder bereichern. Tatsächlich zeigen Pornos nicht einfach nur Sex. Pornos sind supernormale Stimuli, also Stimuli, die einen natürlichen Stimulus in einer übertriebenen Art und Weise nachahmen. Pornos unterscheiden sich also von normaler Sexualität. Sie sind mehr Sex als Sex es ist, dadurch gewinnen sie ihre herausragende Effektivität. Es besteht dadurch die Gefahr, dass Sex neben Pornos langweilig erscheint. Dabei muss die Frage gestellt werden, ob die Pornonutzung in der Lage wäre sexuelle Akte zu ersetzen? Erotik als eine Form der Sexualität bei der klassischerweise viel nur angedeutet wird und im Verborgenen bleibt, verliert seinen Stellenwert. Darüber hinaus gibt es wiederkehrende Berichte, dass Männer, die während der pornounterstützen Masturbation einen zu hohen Druck auf ihre Genitalien ausüben, die Fähigkeit verlieren bei der vaginalen Penetration zum Orgasmus zu kommen. Das liegt daran, dass die Vagina weniger Druck ausübt als die Hand es kann. Solche Entwicklungen können im Einzelfall zu sexuellen Störungen führen oder die partnerschaftliche Sexualität weniger attraktiv erscheinen lassen. Um solchen oder ähnlichen unerwünschten Effekten von Masturbation entgegenzuwirken, haben sich einige junge Männer in Bewegungen zusammengefunden, die Masturbation verbieten wollen (No Fap). Dabei handelt es sich allerdings nur um kleine Nischenbewegungen, die keinen größeren Einfluss auf die Gesellschaft zu haben scheinen. Einige Aktivisten haben darauf hingewiesen, dass Pornos die gelebte Sexualität von jungen Menschen bereits stark verändert hätten. Junge Erwachsene versuchen die starren Routinen von Pornofilmen „nachzuturnen" und als Resultat könnten sexuelle Akte weniger individuell werden. Dadurch geht Sex weniger auf den Partner ein und wird weniger intim. Pornos haben neue Verhaltensweisen zum Normalverhalten gemacht – besonders Oral- und Analverkehr - die vorher wenig verbreitet waren. Andere Verhaltensweisen, die in einem Porno aus gutem Grund abwesend sind, werden in Anlehnung an Pornos auch in den Betten der Normalverbraucher seltener; zum Beispiel ausgiebiges Streicheln, bei dem die Hände der Kamera im Weg wären. Beides könnte Sex weniger attraktiv werden lassen. Pornos verführen dazu sich mit den Darsteller*innen zu vergleichen, was zusätzlichen Druck auf junge Menschen ausüben könnte. Ein wichtiger Faktor für die Abnahme der Sexualität dürfte sein, dass die Anzahl von Partnerschaften in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat. Menschen in Partnerschaften haben sehr viel regelmäßigeren Sex als Singles, deshalb wird eine Abnahme der Anzahl der Partnerschaften weniger Sex nach sich ziehen. Der Rückgang der Partnerschaften könnte wiederum vielfältige Ursachen haben. Unter anderem werden Wertewandel in der Gesellschaft, die zunehmende Bildung von Frauen, und eine abnehmende finanzielle Sicherheit bei jungen Erwachsenen verantwortlich gemacht. Insgesamt scheint finanzielle Sicherheit ein wichtiger Faktor zu sein, der Sexualität beeinflusst. Menschen mit weniger Geld haben weniger Sex. Die möglichen Zusammenhänge werden diskutiert. Dass die Abnahme der Sexualität durch eine Abnahme der finanziellen Sicherheit verursacht wird, scheint von den Daten insbesondere in den USA gestützt zu werden. Im Zuge der Weltfinanzkrise ab 2007 verschlechterte sich besonders die Lage jüngerer Erwachsener. Verschiedene Forschende kamen zu dem Schluss, dass die Partnerwahl in der Hand der Frauen liege. Dies liegt daran, dass Frauen mehr in die Aufzucht von Kindern investieren müssen als Männer. Frauen sind deshalb wählerischer. Während Männer im Grunde jede Person akzeptieren, die über einem gewissen Standard liegt, werden Frauen potentielle Partner genauer prüfen. Traditionelle Gesellschaften sind so aufgebaut, dass jeder Mann – auch die schlechten – eine Partnerin bekommen, weil Frauen ohne einen Mann kaum Rechte zugesprochen werden. Wer mit einer Frau verheiratet war, durfte auch Sex mit ihr haben – der Tatbestand der Vergewaltigung innerhalb einer Ehe wurde in Deutschlang erst in den 90-er Jahren anerkannt. Gleichzeitig wird in vielen Gesellschaften besonders die Sexualität von Frauen kontrolliert. Die Tatsache, dass die Sexualität von Frauen eingeschränkt wird, ist offensichtlich, in patriarchalen Gesellschaften wird Sexualität aber auch häufiger von Frauen erzwungen. Möglicherweise kann die Abnahme von sexuellem Verhalten also als eine positive Zunahme der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen gesehen werden. In diesem Zusammenhang müssen neben der Vergewaltigung auch andere Formen der sexuellen Einflussnahme erläutert werden, die von der aktuellen Forschung als einvernehmlicher, ungewollter Sex beschrieben werden (unwanted consensual sex). Ein wichtiger Hinweis in diese Richtung könnte sein, dass im Zuge der Me-Too Debatte vermehrt darauf hingewiesen wurde, wie allgegenwärtig sexueller Druck auf Frauen ist. Ein anderer Faktor könnte sein, dass ungewollter Sex vermehrt mit Alkoholkonsum einhergeht, der in den letzten Jahren nachgelassen hat. In diesem Falle könnte eine Abnahme der Sexualität also für viele Frauen mit einer Verbesserung ihrer Lebensumstände zusammenhängen. Dies hat allerdings auch eine Kehrseite: Männer, die keinen Sex bekommen und sich darüber beschweren, weil sie annehmen, dass er ihnen zustünde. Diese Gruppe nennt sich selbst Incels. Sie sind gekennzeichnet durch Frauenhass und häufig gewaltbereit. Durch ihre feindselige Haltung gegenüber Frauen verhindern sie notwendigerweise (sexuelle) Beziehungen mit Frauen. Als einer der wichtigsten Kandidaten, die eine abnehmende Sexualität verursacht haben könnten, gilt allerdings ein anderer Faktor: Im Verdacht steht das Handy und die damit zusammenhängende Abnahme von Kommunikation und Intimität. Obwohl wir potentielle Partner über Internet und Handy kennenlernen können, könnte das Handy nicht nur positiv für die Sexualität zu sein. Die Wirkung von Handys und sozialen Medien könnten vielschichtig sein, sicher ist, dass Menschen viel Zeit auf den sozialen Medien verbringen, in der sie sich nicht mit einem Partner aus Fleisch und Blut beschäftigen. Die Wirkung von Handys ist aber nur deshalb so stark, weil die sozialen Medien so gut darin sind unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Wir können direkt mit Menschen in Kontakt treten, bekommen mit einem einzigen Klick Anerkennung und fühlen uns gesehen und Teil einer Gruppe. Dabei können diese Kontakte selten die Tiefe einer Freundschaft oder eines anderen intimen Kontakts erreichen. Handys erlauben es pausenlos mit anderen verbunden zu sein, gleichzeitig wird dabei die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht seltener. Einige Studien konnten zeigen, dass in den letzten Jahren nicht nur die Sexualität abgenommen hat, auch die Einsamkeit hat zugenommen. Es ist bisher noch unklar ob diese Entwicklungen zusammenhängen. Sex ist als Teil einer Beziehung eine wichtige Kraft, die Paare zusammenhält, Konflikte verringert und den Wunsch nach Zweisamkeit fördert. Entsprechend könnte die Abnahme an direkten Interaktionen die Partnerschaftsqualität verringern und so auf lange Sicht sogar Partnerschaften gefährden. Zusätzlich werden einige andere Erklärungen kurz diskutiert, dazu gehören die stärkere Sichtbarkeit der Asexuellen Gemeinde und der Einfluss von Medikamenten auf die Sexualität. Zusammengefasst könnte die Abnahme der Sexualität eine bedauerliche Nebenerscheinung einer insgesamt positiven gesellschaftlichen Entwicklung, wie der höheren sexuellen Selbstbestimmung von Frauen, darstellen. Alternativ könnte sie eine negative Konsequenz eines spezifischen veränderten Freizeitverhaltens, wie des Pornokonsums sein, dem leicht durch zusätzliche Aufklärung begegnet werden könnte. Es könnte sich allerdings auch um eine weitere Nebenwirkung einer fundamentalen, negativen Entwicklung, wie der Veränderung sozialer Interaktionen und Beziehungen durch Handys sein. Der Fokus auf die einzelnen Faktoren wird an die Ergebnisse der im nächsten Jahr folgenden Studie angepasst.weiterlesen

Elektronisches Format: PDF

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-7776-3269-8 / 978-3777632698 / 9783777632698

Verlag: S. Hirzel Verlag GmbH

Erscheinungsdatum: 14.03.2024

Seiten: 176

Auflage: 1

Autor(en): Juliane Burghardt

19,90 € inkl. MwSt.
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