Als Kinder Auschwitz entkommen
Unsere Deportation von Kaiserslautern in die französischen Internierungslager Gurs und Rivesaltes 1940/42 und das Leben danach in Deutschland und der Schweiz. Ein Sammelband mit Texten, Fotos und Dokumenten
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Aus dem Vorwort von Margot Wicki-Schwarzschild
Schweigen statt reden?
Bei allem Verständnis und aller Sympathie für uns Überlebende des Holocaust, die ich immer wieder von Freunden und Bekannten zu spüren bekomme, treffe ich auch Menschen, die unausgesprochene oder frei geäußerte Einwände bringen: "Ist nicht genug darüber berichtet worden?" – "Kann man das Geschehen vor mehr als 70 Jahren nicht endlich ad acta legen?" – "Wird man nicht überfüttert mit längst bekannten Tatsachen?" – "Könnte man nicht einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen?"
Ich nehme diese Bedenken durchaus ernst und kann sie verstehen. Sollten wir wirklich besser schweigen statt reden? Sollten wir aufhören, die Menschen an die grauenvollen Zeiten der Schoáh zu erinnern? Es einfach sein lassen und zur Tagesordnung übergehen?
Aber dann vernehme ich in den Medien Nachrichten von den Neonazis und Revisionisten im Allgemeinen und von der PNOS (Partei National Orientierter Schweizer) im Speziellen. Sie leugnen den Holocaust und die Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs, obwohl es kaum etwas gibt, das so gut dokumentiert ist wie der Holocaust. Sogar die Echtheit des Tagebuchs der Anne Frank wird von diesen Gruppierungen angezweifelt. Dummheit? Oder gezielte, bösartige, rassistische, gefährliche Hetze – wie wir sie aus der Zeit des Nazi-Regimes noch sehr gut in Erinnerung haben? Oder unbedeutende, nicht ernst zu nehmende Mini-Parteien? Wie dem auch sei: Die braune Gefahr ist noch immer nicht gebannt. Sie ist da und Achtsamkeit am Platz. Schweigen statt reden? Ich höre im Geiste die verzweifelte Stimme der deportierten Frau, kurz vor Abfahrt des Zuges in den Tod im Osten: "Schweizer Schwester, sagen Sie es in Ihrer Heimat, sagen Sie es der ganzen Welt, was hier geschieht!" Diese Stimme hätte auch die unseres Vaters sein können. Tausendfach wird dieser Ruf der Verzweiflung aus den Todeszügen zu hören gewesen sein.
Genau diese Stimmen sind es, die mir klar machen: Ich darf nicht schweigen! Wir dürfen nicht schweigen! Wir müssen auch heute noch nach mehr als 70 Jahren unsere Stimme erheben, reden für die, die nicht mehr reden können, reden für die, die verstummt sind: für unseren Vater und für die Millionen von Menschen, für die Kinder, die Jugendlichen, für Menschen jeglichen Alters, für die Betagten und Kranken, die kaltblütig ermordet wurden, nur weil sie Juden waren.
Trotzdem ist es uns wichtig, nicht bei den Ungeheuerlichkeiten des Dritten Reiches stehen zu bleiben, sondern hinzuweisen auf all die Krisen- und Kriegsgebiete und auf das Elend vieler heutiger Menschen, auf "ethnische Säuberungen", auf die Millionen hungernder Kinder in dieser Welt und auf die Missachtung der Menschenrechte in vielen Ländern.
Uns ist es besonders wichtig, den Unterschied deutlich zu machen, dass nämlich damals mit teuflischer Akribie die industrielle Vernichtung der Juden geplant und durchgeführt wurde, wie sie die Menschheit noch nicht erlebt hatte. Um Europa "judenrein" zu machen, wurde dieses logistische Unterfangen, die "Endlösung der Judenfrage" organisiert. Man muss sich nur die Planung eines solchen Horrors vorstellen: Wie vernichtet man sechs Millionen Juden, ohne dass die Welt davon Kenntnis nimmt, ohne dass sie aufschreit? Wie
bringt man so viele Juden um? Wie "entsorgt" man Millionen von Menschen? Mit deutscher Gründlichkeit ist dieses teuflische Werk vorbereitet und ausgeführt worden.
Auch unsere Familie stand auf der Todesliste. Meine Mutter, meine Schwester und ich haben überleben dürfen. Unser Vater nicht. Ein liebevoller Vater und wunderbarer Mensch. Nur weil er Jude war, wurde er in Auschwitz-Birkenau ermordet. Immer wieder haben wir uns gefragt: Warum sind gerade wir diesem Schicksal entronnen? Warum er nicht?
Aus diesen Gründen ist es uns ein Anliegen, eine Verpflichtung, denen eine Stimme zu geben, die nicht mehr sprechen können.weiterlesen
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