An den Grenzen der Logopädie
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Der vorliegende Band trägt den Titel „An den Grenzen der Logopädie“ deshalb, weil die Beiträge nicht direkt mit dem genuinen Tun der Logopäd(inn)en, stimm-, sprech-, sprach- und schluckgestörte Personen zu therapieren, zu tun haben, sehr wohl aber mit dem „Drumherum“ logopädischen Handelns in Ausbildung, Studium und Therapie. Was in der Diskussion um die Akademisierung und Verwissenschaftlichung der Logopädie gerne übersehen bzw. sehr eng gesehen wird, ist die Frage des wissenschaftlichen Herangehens an das Thema. Während für die einen der Kern des Akademisierungsprozesses das naturwissenschaftlich fundierte Nachweisen der Effektivität und Effizienz logopädischer Therapie ist, sehen die anderen (zu denen ich mich zähle) die Notwendigkeit, die ganze Palette von Themen und wissenschaftlichen Zugängen aufzubieten, um in der Logopädie voranzukommen. Dazu gehört dann selbstverständlich die Breite wissenschaftlicher Methoden: neben den naturwissenschaftlichen Methoden, welche den Kern der so heftig geforderten „evidenzbasierten Therapie“ bilden, müssen wir genauso sozial- und geisteswissenschaftliche Herangehensweisen bzw. die ganze Breite wissenschaftlicher Methodik nutzen, um entsprechend den Fragestellungen Erkenntnisgewinne zu erreichen. Ebenso muss man sich in der Logopädie auch mit nicht-empirischen, aber dennoch wissenschaftlichen Arbeiten auseinandersetzen, schlussendlich hat jede empirische Arbeit einen Wust von nicht empirisch begründbaren Annahmen hinter sich. Thematisch gibt es zudem viel mehr zu bearbeiten als die reine Therapie und eine schlichte, der Reparatur-Metapher verhaftete Therapieerfolgsmessung. In diesem Sinne sind die vorliegenden Arbeiten ein Beitrag zu einem breiteren Verständnis des Prozesses der „Verwissenschaftlichung“ der Logopädie.
Susanne Vogt beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit der Rolle der Gesten im Spracherwerb. In dieser Arbeit wird deutlich, dass Logopädie sich auch mit den Grundlagen von Kommunikation, Sprache und Spracherwerb befassen muss – und nicht nur mit der Pathologie derselben.
In ihrem ersten Beitrag behandelt Kathrin Schulz die Frage der Lebensqualität und des Glücks im Zusammenhang mit logopädischer Therapie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass man vermuten kann, dass logopädische Therapie zu einer Erhöhung der Lebensqualität und auch zu einem glücklicheren Leben der Klientinnen und Klienten beiträgt, die Bestimmung der relevanten Größen sich aber einer rein naturwissenschaftlichen Be- und Ergründung entzieht.
Schulz behandelt in ihrem zweiten Beitrag zur „Akademisierung der Logopädinnen und Logopäden“ die brisante (und gerne mit dem Argument, deutsche Fachschulausbildungen hätten ohnedies europäisches Hochschulniveau – es fehle halt nur die formale Anerkennung –, verdrängte) Frage, ob die in Deutschland übliche Ansiedelung der Logopädie-Ausbildung an Fachschulen Konsequenzen auf ethische Kompetenz und – damit verbunden – auf den angestrebten, logopädischen Therapieerfolg hat. Schulz kommt zu einem eindeutigen Schluss: Die Konsequenzen der Fachschulausbildung sind negativ im Vergleich zu einem Studium an einer Hochschule.
Mit „Identität“ und „Supervision“ befassen sich Hester van Wijnen und Hilarion Petzold. Moderne Identitätstheorien werden dargestellt und auf ihre Bedeutung für die Supervision hin geprüft. Unabhängig von der Einschränkung auf das gegebene Thema ist die Auseinandersetzung mit „Identität“ zentral für die Logopädie. Es beginnt mit der „professionellen Identität“ einer deutschen Logopädin, die z.B. sicherlich viel zur Skepsis an und Abwehr von Akademisierung und Wissenschaft als genuine Anliegen der (deutschen) Logopädie beiträgt. Darüber hinaus ist es ein Thema, den Begriff im Hinblick auf die sog. „Supervisionen“ in der nicht-akademischen Logopädie-Ausbildung zu prüfen, da es kaum eine Hinterfragung von Tätigkeit und Qualifikation auf struktureller oder institutioneller Ebene gibt. „Supervidieren“ darf, wer aufgrund Arbeitsvertrag als Lehrlogopädin oder Logopädin dazu eingesetzt wird.
Der Weg von Schülerin und Studentin zur nicht-akademischen oder akademischen Logopädin setzt „Identitätsbildung“ voraus, ein komplexer und verschlungener Weg. Schlussendlich haben Logopäd(inn)en sehr oft mit „beschädigten Identitäten“ zu tun, wenn Klient(inn)en aufgrund ihrer Stimm-, Sprech-, Sprach- oder Kommunikationsstörung nicht mehr in der Lage sind, ihre prämorbide Identität aufrechtzuerhalten.
Im letzten Beitrag findet eine multidisziplinäre Diskussion über das Buch „Psychodynamik des Stotterns“ statt, in dem der Autor Jürg Kollbrunner in teilweise polemischer Weise herkömmliche Wege der Stottertherapie kritisiert. Manche Antworten und Aussagen der beteiligten Diskutanten sind zum Teil für eine sachliche Auseinandersetzung nicht mehr tragbar, das mag an dem Text auffallend sein. Der Diskutant Oertle beispielsweise nennt Kollbrunner einen „Giftzwerg“ und einen „hämischen Denunzianten“ und fragt an einer Stelle: „Was muss wohl in Kollbrunners Kindheit vorgefallen sein, dass er es in graubärtigem Alter noch nötig hat, sich derart überheblich aufzuführen?“ Sandrieser wiederum spricht dem Buch den Status eines Fachbuches ab: es sei „eine Veröffentlichung im Gewande eines Fachbuches“, in dem es von „Halbwahrheiten, Vereinfachungen und Falschaussagen wimmelt“. Im Beitrag von Sandrieser erkennt man, wie unterschiedliche aber unausgesprochene Verständnisweisen von Wissenschaft verbale Aggressionen erzeugen. Wir drucken die Diskussion mit freundlicher Erlaubnis der Fachzeitschrift „Logos Interdisziplinär“ neu ab, aber nur deshalb, weil erstens Kollbrunner auf die Kritiken repliziert hat und zweitens weil ich die Diskussion als illustrativ dafür halte, dass der Weg der deutschen Sprachtherapie/Logopädie zu einem geordneten, reflektierten und sachlichen Diskurs noch ein weiter sein wird. Das Buch Kollbrunners kann ich weiterhin nur empfehlen.weiterlesen
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