Architekturethnografie
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
ARCH+ meint: mehr als Architektur. Doch was ist dieses Mehr? Ist es ein Zusatz, der der Architektur nur beigegeben ist, oder weist es auf ein innewohnendes Potential oder gar Leerstellen hin? Diese ungeklärte Frage ist es, welche die Architektur erst herausfordert, Komplexität ermöglicht und Widerspruch provoziert. Sie erhebt die Architektur über ein reines Formproblem hinaus zu einer Gesellschaftskunst. In dieser Ausgabe geht es bei diesem Mehr um das Leben, das die Architektur konstituiert. Allerdings ist Leben keineswegs essentialistisch zu fassen, es gibt kein Zurück zu einer vermeintlichen Ganzheitlichkeit oder Ursprünglichkeit oder Authentizität, die als Ausgangspunkt der Architektur gesetzt werden kann. Leben ist hier in all seinen Widersprüchen, in seiner Nichtplanbarkeit und seinen Konflikten, kurz in seinen Bezügen zur Gesellschaft gemeint. Architektur soll also gerade nicht ein Refugium vor den Zumutungen der Welt sein, sondern im Gegenteil einen Ort bereitstellen, der Zusammen-Leben ermöglicht. Dieser Anspruch macht sie politisch.
Wie kommt jedoch das Leben in die Architektur? Diese Frage treibt Architekt*innen seit jeher um, insbesondere seitdem die Einheit von Ort und Leben durch die Moderne und Globalisierung zerbrochen ist. Diese Entfremdungserfahrung ist konstitutiv für das heutige Lebensgefühl. Doch eine Rückkehr zu einem ursprünglichen In-der-Welt-Sein ist nicht möglich. Auch nicht über den Umweg der Phänomenologie. Was bedeutet es also, wenn sich Architekt*innen in den letzten 20 Jahren, nach den Ernüchterungen der utopischen Ansätze, wieder verstärkt der Lebenswelt in ethnografisch deskriptiver Weise zuwenden? Ist dies nicht ein Ansatz, der durch seine kolonialen Verstrickungen längst ad acta gelegt wurde?
Die Gastredakteur*innen dieser Ausgabe, Andreas Kalpakci, Momoyo Kaijima und Laurent Stalder erinnern in ihrer Einführung daran, dass es kein geringerer als der Kurator Okwui Enwezor war, der zur Rehabilitierung des ethnografischen Ansatzes in der Kunst beitrug. Es gebe, so Enwezor, in der Gegenwart „keine exotischen Völker mehr zu entdecken und keine weit entfernten Orte mehr zu erkunden. Stattdessen haben wir den Zusammenbruch der Distanz; wir haben das, was wir intensive Nähe nennen.“ Die Entwirrung der durch diese „intensive Nähe“ sich vielfach überlagernden Konfliktlinien im Raum ist Gegenstand dieser Ausgabe.
Um anzudeuten, dass es sich bei dieser ethnografischen Wende um eine kritische Herangehensweise handelt, nenne ich sie hier provisorisch reflexive Ethnografie. Reflexiv meint, ein Bewusstsein für das inhärente Machtgefälle zwischen Beobachtenden und Beobachteten zu entwickeln, für das Andere in uns. Sie ist eine Methode, mit der wir die uns selbst fremd gewordene Welt zeichnerisch beschreibend erschließen. Doch statt im Dschungel des Alltags den Resten einer authentischen Ursprünglichkeit nachzujagen, geht es bei der reflexiven Ethnografie vielfach um die Aufdeckung unserer eigenen Verstrickungen in die unterschiedlichsten Regime und Netzwerke, aber auch um das Freilegen von Potentialen und Ambitionen einer gesellschaftlichen Situation.
Was die hier präsentierten Ansätze vereint, ist das Ziel einer „intersubjektiven Verständigung“, wie Jürgen Habermas es nennen würde. Ein Ziel, zu dem interessanterweise das Medium der Zeichnung viel beitragen kann, da sie unterschiedliche subjektive Sichtweisen, Handlungs- und Sprechsituationen im Prozess des Zeichnens integrieren und sichtbar zu machen vermag. Die Beschäftigung mit der Lebenswelt der Menschen entfernt sich so von ihren ursprünglich phänomenologischen, antirationalen Wurzeln und nimmt im Sinne Habermas’ einen aufklärerischen Impetus an.weiterlesen
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