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Die Gelbe Reihe / NORDHAUSEN AM REICHSHOFRAT

Regesten

Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)

190 Aktenstücke sind es, die der vorliegende Band in Regestenform bringt und damit, abgesehen von den in den vergangenen Jahren bereits durch die Kollegen des Göttinger Projektes verzeichneten Aktenstücken, erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Jedes dieser Verfahren enthält ein Gesuch um die Erteilung von Gunst, von Gnade oder von Gerechtigkeit, die vom Römischen Kaiser als Haupt des Heiligen Römischen Reiches, als oberstem Lehnsherren und Hüter des Rechts, nicht nur erwartet, sondern formell beantragt werden konnte. Es galt dies insbesondere für die Einwohner von Städten wie Nordhausen, die einzig ihm, dem Kaiser, und keinem der die Mauern umlagernden Fürsten untertan, die also ‚reichsunmittelbar‘ waren. Emblematisch ist in diesem Sinne zu nennen, dass sich in den Nordhäuser Reichshofratsverfahren Privilegien und Mandate von Heinrich dem Vogler († 936, Nr. 189) bis zu Franz II. († 1835, Nr. 99) finden, vom ersten also bis zum letzten Herren des Heiligen Römischen Reiches und damit Zeugnisse von über 800 Jahren deutscher Lehens-, Herrschafts- und Verwaltungsgeschichte. Die Institution, durch die der Kaiser auf diese Weise mit dem Reich in soziale Beziehung trat, war – unter anderem – der Reichshofrat, dessen hauptsächliche Aufgaben einerseits in der Rechtsprechung, andererseits in der Befriedigung gratialer und lehensrechtlicher Bedürfnisse bestand. Dass es wenigstens prinzipiell, unter bestimmte Umständen, selbst dem Geringsten unter den Untertanen des Kaisers freistand, auch noch die Mächtigsten des Reiches zu belangen, dass diese Möglichkeit auch rechtlich marginalisierten Gruppen wie Frauen oder Juden zustand und dass dies letztlich, wie eine sechsstellige Zahl an Aktenstücken im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien belegt, auch geschah, ist eines der gerade im internationalen Vergleich allzu oft unterschätzten ‚modernen‘ Eigenschaften des Heiligen Römischen Reiches, dem nach wie vor das aus dem 19. Jahrhundert ererbte Bild eines unflexiblen, reformunfähigen und verknöcherten Gebildes anhängt. 190 Aktenstücke bedeuten zugleich 190 Einblicke in die Nordhäuser Gesellschaft ihrer Tage, in die Handlungen der wichtigsten Akteure, die bedeutendsten Probleme, die schwersten Konflikte ihrer Zeit. Zugleich jedoch eröffnen sie dem modernen Betrachter ein Fenster in die kleinen, alltäglichen Schwierigkeiten von Reich und Arm, Etabliert und Prekär, Jung und Alt. Welcher Zorn mag in den Handwerkern der Stadt aufgewallt sein, da der preußische Stadtschultheiß den Sohn eines einfachen Schweinschneiders den Weg in eine der renommierten ratsfähigen Gilden zu öffnen versuchte? Wovon sollte ein Apotheker leben, dem von der Stadt die Pacht aufgekündigt und der mit Kind und Kegel, seinen Medikamenten und im wortwörtlichen Sinne auf die Straße gesetzt wurde? Wie mögen sich die Senatoren der Stadt gefühlt haben, da sie voll Besorgnis auf die leeren Stadtkassen und die leere Ratsbierstube blickten, während die Kanoniker des Heiligkreuzstiftes in den vollen Zechstuben ihrer Stiftshäuser Tag für Tag das Geschäft ihres Lebens mit günstigem, weil vom Mahlpfenning befreiten, Bier machten? Diese und viele weitere Perspektiven eröffnet eine Beschäftigung mit den Nordhäuser Verfahren. Zugleich bieten sie Anlass für Psycho- und Soziogramme: Wir begegnen in ihnen einzigartigen Persönlichkeiten, wie dem streitbaren Bürgermeister Johann Andreas Sigismund Wilde, der die Stadt an Reichskammergericht und Reichshofrat mit Prozessen in einem Ausmaß überzog, dass selbst der sonst so nüchterne Hans Silberborth ihn vor beinahe 100 Jahren als ‚Prozeßhansl‘ bezeichnen musste. Zugleich begegnen wir aber Johann Christoph Schöpfer, Sohn der Stadt Nordhausen und gelernter Bäcker, der im Jahre 1732 bei der Westindischen Compagnie als Matrose anheuert und von dort nach Surinam fährt, wo er – wie wenigstens seine Geschwister später insinuieren sollten – zwei Plantagen und Handelsschiffe besessen habe und so, nach den Maßstäben der Zeit, zum Millionär geworden sei (durch ihn gewinnt Nordhausen immerhin die Andeutung einer frühneuzeitlichen Kolonialgeschichte). Wir begegnen aber auch einer beinahe unübersehbaren Menge von manchmal mehr, manchmal weniger deutlich charakterisierten Zeitgenossen, hunderten von Handwerkern, Brennern und Brauern, Frauen und Männern aller Ränge, Kanoniker und Pastoren, Katholiken, Protestanten und gelegentlich Juden: gewiss (so kann man guten Gewissens behaupten) einem nicht kleinen Teil der in der Frühen Neuzeit kaum je mehr denn 8.000 Einwohner zugleich zählenden Bevölkerung einer ‚kulturell kleinräumigen‘ (Thomas Lau) Reichsstadt wie Nordhausen. Die Zeitspanne, die unsere 190 Verfahren abdecken, umfasst die gesamte Epoche der ‚Frühen Neuzeit‘, von der Mitte des 16. Jahrhunderts (etwa Nr. 5), als der Reichshofrat als rechtsstiftende Institution zwar schon bestand, seine endgültige Form jedoch noch zu finden hatte, bis zum Jahre 1802 (wiederum Nr. 99), da – am 6. Juni – König Friedrich Wilhelm III. in Königsberg am Pregel jenes Patent unterschrieb, welches die Einverleibung der Reichsstadt in den preußischen Staat verfügte, in dem sie fast 150 Jahre lang verbleiben sollte. Es ist diese lange Zeit eine Epoche, die wenigstens in der populären Imagination als ein Zeitalter gekennzeichnet worden ist, das sich vom vorausgehenden Mittelalter durch Prozesse unterscheiden soll, die mit den Begriffen ‚Veränderung‘, ‚Dynamik‘ und ‚Revolution‘ zu kennzeichnen wären. Für Nordhausen bedeutet diese Epoche in jedem Falle eine Veränderung seines Umfelds, aber auch seiner inneren Verhältnisse. Stand die kleine Reichsstadt zunehmend unter dem Druck großer und kleiner fürstlicher Nachbarn, insbesondere Kursachsens und Kurbrandenburgs, der vor allem in der Ausübung des Stadtschultheißenamtes durch beide Mächte sowie in der 12 Jahre währenden Besetzung der Stadt durch Preußen ab 1703 Ausdruck finden sollte, so brachen im Inneren Konflikte um die Ordnung der Stadt, insbesondere um Vetternwirtschaft und Korruption, wiederholt und offen zutage, was zu einer regen Reform- und Verordnungstätigkeit, aber eben auch zu Rechtsstreitigkeiten führte. Von beiden groben Entwicklungslinien – der inneren wie der äußeren – zeugen die hier versammelten Regesten der Akten des kaiserlichen Reichshofrates. Strukturgebend ist dabei die Tatsache, dass – lassen wir das Stadtschultheißenamt einmal beiseite – innerhalb der Mauern der Stadt letztlich zwei autonome territoriale Entitäten bestanden, die weitgehend nebeneinander koexistierten: die dominierende protestantische Reichsstadt selbst mit ihren Institutionen von ‚Bürgermeister und Rat‘ und daneben das katholische Heiligkreuzstift, das nicht nur über eigene Ämter verfügte, sondern auch über einen eigenen Jurisdiktionsbereich, an dessen Grenze es im 18. Jahrhundert zu einem erst mit dem Ende der Reichsunmittelbarkeit abbrechenden, permanenten Konflikt kam, der die Frage nach der Titulatur des eben ‚Kaiserlichen Freien‘ oder eben bloß ‚Kaiserlichen‘ Reichsstiftes ebenso stellte wie diejenige nach der Jurisdiktion über die Bewohner des Stiftes, der aber auch seine Sonderrechte in Bezug auf Schroten und Mahlen tangierte sowie das Recht des Stiftes, seine Stiftshäuser durch Pfähle von der Straße zu scheiden, welches Gegenstand des womöglich umfangreichsten und komplexesten hier verzeichneten Prozesses darstellt (Nr. 99, 122). Zuletzt führt die Beherbergung eines konvertierten Schülers (Nr. 93), der noch dazu Sohn des Bürgermeisters von Sondershausen war, in einem der Stiftshäuser zu einem regelrechten Aufstand, einen Bürgertumult (Arno Wand) . Die Stadt tritt hier dem Stift gegenüber in dieselbe Rolle, wie sie die Fürstenstaaten um sie herum ihr gegenübereinnahmen: Während Bürgermeister und Rat die Ambition hegen, den Anachronismus, den das Stift darstellte, endlich loszuwerden, denkt man in Berlin, in Hannover, in Dresden ganz ähnliches in Bezug auf die Reichsstadt. Ein weiterer Faktor ‚fremder‘ Autorität in der Stadt: Der Münzkommissar und das kaiserliche Postamt, Institutionen die als permanente Einrichtungen regelmäßig nach Wien berichten und dem modernen Beobachter interessante Einblicke in die frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte Nordhausens wie der ganzen Region bieten können. Nordhausen erweist sich dabei als ein vom Kaiserhof zwar beschütztes, jedoch zugleich auch stets beobachtetes, stets vermessenes Gemeinwesen. Neben den großen, viele Jahrzehnte und ganze Generationen von Kanonikern, Bürgermeistern und Reichshofräten verschlingenden Prozessen zwischen Stift und Stadt, die ganze Archivkartons füllen, stehen freilich auch kurze Aktenstücke, etwa die in einem Gedicht auf den Reichsvizekanzler Georg Sigismund Seld bestehende Bewerbung des Johannes Buchbach um die Würde eines poeta laureatus (Nr. 162) oder das undatierte Fragment einer Übereinkunft zwischen den Landgrafen Friedrich, Balthasar und Wilhelm von Thüringen mit den Grafen Ernst und Heinrich von Gleichen über ein von letzteren abgeschlossene Bündnis mit den Städten Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen (Nr. 12, sogar noch kürzer: Nr. 37). ...weiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-939357-55-1 / 978-3939357551 / 9783939357551

Verlag: Druck und Verlag Iffland

Erscheinungsdatum: 14.08.2024

Seiten: 296

Auflage: 1

Autor(en): Dr. Stephan Wendehorst, Dr. Kevin Hecken

25,00 € inkl. MwSt.
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