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Berlin Theorie

Politik des Raums im Neuen Berlin

Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)

Editorial Von Ngo, Anh-Linh / Gordowy, Ola Im Jahr 2019 jährte sich der Fall der Berliner Mauer zum dreißigsten Mal. Der Neue Berliner Kunstverein und ARCH+ hatten das Jubiläum zum Anlass genommen, um mit der Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin und einem Begleitprogramm die urbanistische und architektonische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte zu analysieren und die der Transformation zugrundeliegenden Kräfte offenzulegen. Denn das historische Ereignis bedeutete nicht nur eine geopolitische Zäsur in der Konfrontation zwischen Ost und West, sondern hatte für Berlin, wo die kapitalistische und die realsozialistische Weltordnung räumlich unmittelbar aufeinanderprallten, ganz konkrete stadtentwicklungspolitische Auswirkungen. Diese waren das Ergebnis dreier Neomythen, die wir in dieser Ausgabe analysieren: Mythos der Geschichte, Mythos des Marktes und Mythos der Kreativität. Berlin sollte als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands „wiederhergestellt“ werden. Auf der politischen Ebene bediente der Neohistorismus, der mit der Behauptung einer vermeintlich Berlinischen Architektur begann, in erster Linie das Bedürfnis nach geschichtlicher Kontinuität und nationaler Identität. Doch der vehement geführte Architekturstreit der 1990er-Jahre verschleierte die eigentlichen Transformationsprozesse, die neben den genannten politischen Implikationen vor allem ökonomischer Natur waren. Schließlich sollte der Sieg der Marktwirtschaft über den Sozialismus nicht nur im Stadtbild – unter anderem durch das Ausradieren der Spuren der DDR-Moderne und die Rekonstruktion historischer Bauten – zum Ausdruck kommen, sondern auch durch eine andere Ökonomie der Stadt unumkehrbar gemacht werden: Tiefgreifende Verwaltungsreformen ermöglichten die flächendeckende Privatisierung kommunaler Liegenschaften. Die Langzeitfolgen dieser Politik setzen heute den Wohnungsmarkt und das sozialräumliche Gefüge der Stadt zunehmend unter Spannung. Rhetorisch wurde diese Entwicklung von der Inszenierung Berlins als Kreative Stadt überdeckt. Retrospektiv gesehen enthielt Klaus Wowereits salopper Ausspruch „Berlin ist arm, aber sexy“ ein weitreichendes politisches Programm. Er ist Ausdruck einer neuen Raumpolitik, die mittels einer gezielten Inwertsetzung von Alternativkulturen den Mythos der Kreativität zu überhöhen und Berlin als einen globalen Sehnsuchtsort zu etablieren sucht, um gleichzeitig eine neoliberale Agenda der Austerität und des schlanken Staates durchzusetzen. Die Instrumentalisierung der Kreativität als gesellschaftliche Funktion ist einer der folgenreichsten Aspekte dieser Entwicklung. Was in der Subkultur Berlins vor der Wende noch eine avantgardistische Prämisse war, hat sich heute zu einer ökonomischen Größe entwickelt. Ursprünglich als Mittel zur Überwindung der funktionalistischen Gesellschaftsform gedacht, ist Kreativität selbst zu einer funktionalen Variablen geworden und hat ihren kritischen Gehalt längst verloren. Sie ist im weitesten Sinne zu einem Strategem des Stadtmarketings avanciert. Statt eines Editorials spricht die polnische Architektin und Autorin Ola Gordowy mit ARCH+ Chefredakteur Anh-Linh Ngo über die Kräfte, die diese Politik antreiben, über das Nachleben der einst „ummauerten Stadt“ sowie über Architektur als Werkzeug des Ein- und Ausschlusses. Mauern nach der Mauer Ola Gordowy: Neben einer Kritik an der Instrumentalisierung und Kommerzialisierung der Mythen, die hinter dem Berlinbild als hippe kreative Stadt stehen, befasst sich Ihr Heft auch mit den direkten Auswirkungen der geteilten Stadtgeschichte. Inwiefern ist diese historische Ost-West-Teilung immer noch relevant für das heutige Berlin? Anh-Linh Ngo: Die Teilung entfaltet eine enorme Langzeitwirkung, die bis heute andauert, weil sie nicht nur räumlicher Natur war. Hier prallten schließlich zwei gegensätzliche politische und wirtschaftliche Systeme aufeinander, die bei der Wiedervereinigung nicht überwunden wurden. Statt das Beste aus beiden Welten zu vereinen, wurde die Stadt nach 1989 einseitig neoliberal überformt. Die Folgen dieser Politik bekommen wir heute in aller Wucht zu spüren: Verdrängung, Homogenisierung und Exklusion. Vielleicht haben diese Folgen etwas damit zu tun, dass wir das Instrument der Teilung, die Berliner Mauer, ihre physisch-materielle Bedeutung, nie richtig verarbeitet haben. Der Einzige, der sie als Architektur ernst genommen hat, war der junge Rem Koolhaas. 1971 unternahm er als Student der Londoner Architectural Association eine Exkursion nach Berlin, um die Mauer als architektonisches Objekt zu erforschen. Entgegen der Vorstellung einer – auch moralisch – sauberen Zweiteilung, sah er sich mit der Situation konfrontiert, dass es der sogenannte freie Teil der Stadt war, der von einer Mauer umschlossen war. Diese räumliche Erkenntnis löste bei ihm einen Schock aus, da sie seinen Freiheitsbegriff relativierte und er für einen Moment in die Abgründe der Architektur blickte: Wir sind „freiwillige Gefangene der Architektur“. Die Berliner Mauer als prototypische Architektur offenbarte, dass Grenzziehung, Teilung, Einfriedung und Exklusion zu den wesentlichen Strategien der Architektur gehören. Diese paradoxale Grundbedingung der Architektur ist vielleicht die wichtigste Lehre, die wir aus der historischen Situation für heute ziehen können. Denn wir sind heute wieder mit der janusköpfigen Rolle der Architektur als Werkzeug des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses konfrontiert. Seit dem Mauerfall ist die Anzahl der physischen wie der immateriellen Mauern gewachsen. Statt die Welt in unterschiedliche politische Blöcke zu teilen, trennen die neuen Mauern Habende von den Habenichtsen, so brutal muss man es formulieren. Im Kern geht es genau darum, wenn wir abstrakt von Inklusion und Exklusion, von Gentrifizierung und Verdrängung sprechen. OG: Was waren die Schlüsselfaktoren bei der Gestaltung des Berliner Stadtbilds in der Debatte um die sogenannte Kritische Rekonstruktion in den 1990er-Jahren? ALN: Bei der städtebaulichen Umwälzung Berlins sind die politischen und ökonomischen Ebenen untrennbar verwoben. Nach der Wiedervereinigung wuchs der Wunsch nach historischer Kontinuität und nationaler Identität, der mit einer symbolpolitischen Aufladung Berlins einherging. Dies erfolgte einerseits durch die Rekonstruktion des Stadtgrundrisses und zerstörter historischer Gebäude, andererseits durch die Erfindung einer vermeintlich spezifischen Architektur für das „Neue Berlin“, für die man den eingängigen Begriff der Berlinischen Architektur einführte. Dass dabei zentrale Symbolbauten der DDR abgeräumt wurden, versteht sich von selbst. Worauf unsere Ausstellung und dieses Heft hinweisen, ist die unterbelichtete Tatsache, dass die Rekonstruktionsdebatte der 1990er-Jahre als komplementär zu den brutalen ökonomischen Transformationsprozessen betrachtet werden muss. Der Berlinische Neohistorismus, die Fassadendiskussion, die Kritische Rekonstruktion und später der Diskurs über die Kreative Stadt dienten letztlich der Durchsetzung einer Ökonomie der Stadt, die auf Privatisierung basiert. Geschichte wurde hier zu einem Marketinginstrument der Immobilienbranche im globalen Standortwettbewerb. Wir müssen uns immer den wirtschaftlichen Unterbau dieser Projektion vergegenwärtigen, um die andauernden Auswirkungen der reaktionären Transformation richtig erfassen zu können. Dass diese Entwicklung reaktionär war, gab sogar einer der wichtigsten Protagonisten dieser Epoche, Hans Kollhoff, jüngst in einem Interview unumwunden zu: „Der von Kleihues geprägte Begriff der ‚Kritischen Rekonstruktion‘ war eine strategische Meisterleistung, befreit doch das ‚Kritische‘ die Rekonstruktion vom latent Reaktionären.“[1] Mit dem Prädikat „kritisch“ ausgestattet, konnten Politik und Architektenschaft die Privatisierungspolitik, die diesem Prozess zugrunde liegt, als etwas ausgeben, das der kulturellen Identität dienlich sei. Sie konnten zugleich die nationalistischen Untertöne des Diskurses kaschieren, indem sie von „Berlinischer Architektur“ sprachen, was weit harmloser klingt als „deutsche Architektur“. Eine in der Tat strategische Meisterleistung, weil die Mehrheit ihnen bis heute auf den Leim gegangen ist und die Begriffe eine normative Kraft gewonnen haben. OG: Ist der neohistorische Stil eine Reaktion auf die Politik der Reprivatisierung und Inwertsetzung der Stadt? Ist die Geschichte des Berliner Schlosses in diesem Zusammenhang zu sehen? ALN: Die Inwertsetzung von Geschichte begann bereits in den 1970er-Jahren. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht hier von einer „Kulturalisierung des Urbanen“. Dieser Prozess beinhaltet eine Ästhetisierung und Kommodifizierung bestimmter historischer Schichten einer Stadt. Atmosphären werden als konsumierbare Produkte für den Tourismus und die Immobilienwirtschaft erschaffen. Die Rekonstruktionsdebatte ist Teil dieser allgemeinen Tendenz. Nicht nur in Berlin, sondern auch in mittel- und osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn ist das schon länger deutlich zu beobachten. Eine bestimmte Vergangenheit zu rekonstruieren dient sowohl einer meist nationalistisch konnotierten Identitätskonstruktion, sie ist aber als Distinktionsmerkmal und Verkaufsargument für den Immobilienmarkt immer auch wertschöpfend. OG: Zygmunt Bauman beschreibt mit dem Begriff Retrotopia eine Gesellschaft, die die Idee einer möglichen Zukunft verloren hat und stattdessen in einer verklärten Vergangenheit versinkt. Sind Berlin und andere Städte mit einer postsozialistischen Entwicklung davon besonders betroffen? ALN: Ja, diese „verzweifelte Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt“, wie es Bauman im besagten Buch ausgedrückt hat, betrifft vor allem Gesellschaften im Umbruch. Die Stadtsoziologin Heike Delitz und ihr Kollege Joachim Fischer haben vor zehn Jahren in unserer letzten Berlin-Ausgabe herausgearbeitet, dass jede Gesellschaft sich ihre eigene Zukunft, das heißt die Vorstellung davon, wie sie morgen sein wird, im Medium des Raums entwirft. Zugleich konstruiert jede Gesellschaft auch ihre Geschichte, das heißt, das Wissen darüber, woher sie kommt und was sie tradiert, im Medium des Raums.2[2] Dass Zukunft gestaltet wird, ist selbsterklärend. Relevant an dieser Aussage ist, dass Geschichte nichts Gegebenes ist, sondern jeweils nach den vorherrschenden Bedürfnissen und Ideologien immer wieder neu konstruiert wird. Für Städte im Umbruch ist der Kippmoment zwischen Zukunfts- und Vergangenheitssehnsucht ausschlaggebend. Im Falle Berlins sind wir Zeuge eines einmaligen Vorgangs: Mit dem Fall der Mauer überlagerten sich hier die gegenläufigen Prozesse der Zukunfts- und Geschichtskonstruktion, sie fielen in eins. Das Stadt- und damit Gesellschaftsbild, das sich damals formierte, war und ist keine Vision, die in eine undefinierte, ungewisse Zukunft blickt. Sie ist vielmehr auf eine vermeintlich verlässliche Geschichte gerichtet. Natürlich ist auch diese Geschichte geschaffen, konstruiert: Die Berlinische Architektur und die Kritische Rekonstruktion evozieren beide stilistisch ein bestimmtes bürgerliches Gesellschaftsbild der Zwischenkriegszeit. Seit dem Mauerfall wird die Zeitspanne zwischen dem Ende des Kaiserreichs und dem Beginn des NS-Staats idealisiert, je nach politischer Gesinnung sind die Übergänge in die Periode davor oder danach jedoch fließend. Die Konzentration auf diese Phase löscht die durch NS-Zeit und Krieg verursachten Brüche aus – jene Brüche, die zu einer in hohem Maße selbstreflexiven, ihrer historischen Schuld bewussten Nachkriegsgesellschaft geführt hatten. Die Auslöschung der baulichen Manifestationen der Nachkriegszeit zielt damit auch auf diesen gesellschaftlichen Konsens, auf die Auslöschung der unverarbeiteten Aspekte der Geschichte. Dies ist eine weitere Ebene der problematischen, verschränkten Prozesse der unmittelbaren Nachwendezeit mit ihrer Sehnsucht noch „Normalisierung“. OG: Welche Art von Gesellschaft stellte man sich in dieser neuen, „normalisierten“ europäischen Stadt vor? ALN: Wie Michael Falser in seinem Essay für dieses Heft darlegt, hat die Vorstellung der „Normalisierung“ nicht nur mit der Idee eines „normalen“, vorgeblich preußischen Architekturstils und eines rekonstruierten idealisierten Stadtgrundrisses zu tun, sondern auch mit der Idee einer normalisierten bürgerlichen Gesellschaft, deren Mitglieder Teile der Stadt besitzen. Spätestens hier tritt der ökonomische Kern der Politik des Raums im Neuen Berlin zutage, deren wesentliches Ziel es war, den vergemeinschafteten Grundbesitz im ehemaligen Ostteil zu privatisieren und die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen in der gesamten Stadt auf ein Minimum herunterzufahren. In der Ausstellung haben wir die seit der Wende fortschreitende Privatisierung des öffentlichen Grundeigentums Berlins in Form einer Kartierung präsentiert. So konnten wir das Ausmaß des Ausverkaufs erstmals anschaulich darstellen. In den letzten 10 bis 15 Jahren wurden die Folgen der Privatisierungspolitik kritisch diskutiert, aber niemand verfügte über einen aggregierten Datenbestand. Politik und Verwaltung hatten selbst keinen Überblick und haben unter Verweis auf den Datenschutz gemauert, obwohl hier öffentliches Eigentum veräußert wurde und wir als Bürger*innen ein Anrecht auf einen transparenten Umgang mit den Informationen haben sollten. Wir wären fast daran gescheitert, diese Kartierung als anonymisiertes Beweismittel präsentieren zu können. Bei unserer Recherche stießen wir schließlich auf die Studie von Florine Schüschke, der es gelungen war, etwa 90 Prozent der Fälle nachzuverfolgen und auszuwerten, bei denen der Senat in den letzten drei Dekaden öffentliches Eigentum privatisiert hatte. Die meisten Privatisierungen fanden, wie zu erwarten, im ehemaligen Ostberlin statt. Dabei wurde nicht nur Grund und Boden, sondern im erheblichen Umfang auch der kommunale Wohnungsbestand privatisiert. Die Summe aller Grundstücke, die der Berliner Senat seit dem Fall der Mauer privatisiert hat und die referenziert werden konnten, addiert sich auf die Fläche von annähernd 21 Millionen Quadratmeter. Das entspricht in etwa der Größe des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Wenn solch enorme Teile der Stadt privatisiert werden und der spekulativen Entwicklung anheimfallen, sind steigende Grundstückspreise und Mieten sowie fehlendes Bauland eine zwangsläufige Folge. Insbesondere hat es aber auch die logische Konsequenz, dass die öffentliche Hand diesen Prozess nicht mehr steuern oder nennenswert beeinflussen kann. Ein großer Teil des nicht-reproduzierbaren Bodens, der sich in öffentlicher Hand befand, wurde so an den privaten Sektor übereignet. Und es liegt in der Natur des privaten Sektors, den Gewinn maximieren zu wollen. Mit dieser Problematik sind wir gegenwärtig konfrontiert. OG: Die Konfrontation der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten in Ost und West hat zu Konflikten nicht nur in diesen Bereichen, sondern auch auf raumpolitischer Ebene geführt. Sie könnte aber auch eine hervorragende Gelegenheit bieten, Erfahrungen auszutauschen und von der Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe zu lernen. Inwieweit hat Berlin von diesen beiden gleichzeitig existierenden Realitäten profitiert? ALN: Berlin war nicht nur geopolitisch ein Hotspot der Konfrontation zwischen Ost und West, sondern auch im räumlichen und raumordnungspolitischen Sinne. Beide Ideologien versuchten, sich in der Stadt zu manifestieren. Die Initiative Weltkulturerbe Doppeltes Berlin um Arno Brandlhuber hat vor ein paar Jahren eine interessante Studie verfasst.[3] Sie stellte die spiegelbildliche Entwicklung verschiedener Institutionen und Architekturen der geteilten Stadt dar und machte deutlich, wie die beiden Blöcke auf der baulichen und architekturideologischen Ebene miteinander konkurrierten. In Westberlin fand in den 1950er-Jahren die Internationale Bauausstellung statt, in deren Rahmen das Hansaviertel und das Haus der Kulturen der Welt errichtet wurden. Zeitgleich entstand in Ostberlin mit der Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, das Gegenstück zum Hansaviertel. Bemerkenswert ist, dass der Osten in diesem Fall einer ausgeprägt klassizistischen Monumentalarchitektur und eher traditionellen Stadtvorstellung folgte, während im Westen mit dem Hansaviertel das moderne Ideal der aufgelockerten und durchgrünten Stadt mit Wohnhochhäusern und Flachbauten verwirklicht wurde. Der sozialistische Osten war also nicht zwingend futuristischer oder zukunftsorientierter – es hängt immer vom spezifischen Kontext ab und kann leicht von einem Extrem ins andere umschlagen. Heute lieben die konservativen Stadtplaner*innen und Architekt*innen Berlins die Karl-Marx-Allee als eine der größten Errungenschaften des Ostens, während sie alles andere am liebsten abreißen würden. Das Perfide dabei ist, dass man in der Tat andere Symbolbauten zügig abgerissen hat, um das Narrativ der städtebaulichen Vision gezielt zu zerstören. Darauf weist Adrian von Buttlar in dieser Ausgabe hin. Was bleibt, und das ist durchaus Kalkül, sind die symbolfreien Plattenbauten, die man dann leicht diffamieren kann. Man muss sich ins Bewusstsein rufen, dass die moderne Stadtplanung – in Ost wie West – darauf abzielte, im Medium des Raums das gesellschaftliche Gleichheitsprinzip zum Ausdruck zu bringen. Die Stadt wurde zunächst von jeglicher symbolischen Bedeutung befreit. Nur an bestimmten gesellschaftlichen Kulminationspunkten, wie etwa Sondernutzungen für die Gemeinschaft, setzten die ostdeutschen Stadtplaner*innen auf architektonische Symbolik. Bauten wie das Ahornblatt, das Stadion der Weltjugend oder der Palast der Republik verkörperten Orte der Zusammenkunft. Der Abriss dieser Symbolbauten der DDR spiegelt gewissermaßen den Versuch der Tilgung ihrer Gesellschaft wider. So gesehen haben wir, um auf Ihre Frage zurückzukommen, gar nichts voneinander gelernt. Statt von den real existierenden Alternativen zu profitieren und das Beste aus beiden Welten zu wählen, bestand die Politik des Raums im Neuen Berlin darin, eine fiktive Einheitlichkeit mit aller Macht, das heißt auch mit aller Brutalität des Marktes, durchzusetzen. OG: Wie viel Markt und wie viel Ideologie stecken hinter der Auslöschung des Sozialismus aus dem Stadtraum? ALN: Wir haben es mit sehr viel Ideologie zu tun, schließlich ist der Markt auch eine Ideologie. Stimmann sprach bereits 1994 von der neuen Raumpolitik als einer „Revolution rückwärts“. Dieter Hoffmann-Axthelm, der als Gutachter für Stimmann den Ansatz der Kritischen Rekonstruktion in Form des Planwerk Innenstadt mit ausarbeitete, hat in einem anderen Zusammenhang die Moderne als „das ästhetische Korrelat der Diktatur“ diffamiert (siehe den Beitrag von Michael Falser in dieser Ausgabe.) Hinter diesen beiden Aussagen blitzt pure Ideologie hervor, die die Vertreter der Kritischen Rekonstruktion jedoch hinter architektonisch-städtebaulichen Argumenten zu verstecken wussten. Doch Ideologie allein reicht nicht, um eine Revolution zu gewinnen, hatte schon Henri Lefebvre in seinem Buch Die Produktion des Raums notiert: „Eine Revolution, die keinen neuen Raum produziert, hat ihr volles Potential nicht ausgeschöpft; genaugenommen ist sie gescheitert, da sie das Leben an sich nicht verändert hat, sondern nur den ideologischen Überbau, die Institutionen oder die politischen Apparate.“[4] Nach diesem Maßstab war die „Revolution rückwärts“ äußert erfolgreich, da sie sich in das Alltagsleben, in die Sprache und vor allem in den Raum eingeschrieben und im Leben einer Vielzahl von Berliner*innen in Form von steigenden Mieten und Verdrängung tiefe Spuren hinterlassen hat. OG: Was kann die Stadt heute aus ihrer geteilten Vergangenheit lernen? ALN: Unmittelbar nach dem Fall der Mauer hätte man versuchen müssen, beide Systeme zu verbinden und voneinander lernen zu lassen. Raumpolitisch ist es jetzt fast zu spät, weil der öffentliche Grund und Boden größtenteils privatisiert wurde. Es gibt praktisch kein Zurück mehr, wenn die Gemeingüter erst einmal privatisiert sind. Denn Ressourcen zu resozialisieren, ist äußerst schwierig. Dennoch ist genau dies ein Thema, das in Berlin seit ein paar Jahren Auftrieb erhält und auch praktiziert wird. Nicht nur einzelne Häuser werden auf dem Wege des Vorkaufsrechts wieder in die öffentliche Hand überführt, sondern auch ein kommunaler Bodenfonds wurde auf einmal politisch durchsetzbar. Als Reaktion auf die Wohnungskrise fordern Initiativen wie Deutsche Wohnen enteignen! die Rekommunalisierung großer Wohnungsunternehmen, die von der Privatisierung des sozialen und öffentlichen Wohnungsbaus zu für sie sehr vorteilhaften Bedingungen profitiert haben. Kürzlich wurde eine Stadtbodenstiftung aus der Zivilgesellschaft heraus gegründet (siehe den Beitrag von Sabine Horlitz in dieser Ausgabe). Das ungeheure Ausmaß der Wohnungskrise hat diesen äußerst brisanten Themen Gehör verschafft. Neben der Bodenfrage, der wir 2018 unter dem Titel The Property Issue ein ganzes Heft gewidmet haben, geht es in Berlin vor allem um die Idee einer Stadt von unten, um Prozesse des Commoning, die zur Geschichte der Stadt gehören (siehe ARCH+ 232 An Atlas of Commoning). Dazu zählen die historischen Erfahrungen der Instandbesetzung der Vorwendezeit, die Zwischennutzung der Nachwendezeit, aber auch jüngste Initiativen und Projekte wie ExRotaprint, Mietshäusersyndikat, das Haus der Statistik oder das Dragoner Areal. Solche Projekte können aus dem Erfahrungsschatz der geteilten Stadt schöpfen, sie sind wichtige Räume für gesellschaftliche Experimente. Was diese Generation jedoch von der vorhergehenden unterscheidet, ist, dass sie über den reinen, „existentiellen Experimentalismus“ hinausgeht, den der Soziologe Heinz Bude als Kennzeichen der Hausbesetzerszene der 1980er-Jahre ausgemacht hat. In einem Interview zu seinem gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland verfassten Roman Aufprall macht Bude die Radikalität seiner Generation noch an der Abwesenheit von Utopie fest, an dem Versuch, das Leben an einem konkreten Ort zu experimentieren, wie er es ausdrückt. Im Unterschied dazu verbinden die heutigen Protagonist*innen in den städtischen Kämpfen konkrete Projekte und Experimente mit einem utopischen Horizont im Sinne der Bodenfrage und der Commons. Das macht Mut, denn nur in der Verbindung von Projekt und Utopie können wir die Gesellschaft nachhaltig verändern. + + + 1 „Von der Stadt zurFassade“, Interview mit Hans Kollhoff, Berlin-Mitte, 16. Mai 2018, in: Berliner Portraits – Erzählungen zur Architektur der Stadt, hrsg. v. Lukas Fink, Tobias Fink, Ruben Bernegger, Köln 2019, S. 164 2 Vgl. Heike Delitz,Joachim Fischer: „Stadtvisionen – Gesellschaftstatsachen“, in: ARCH+ 201/202 Berlin, März 2011, S. 32 3 Initiative Weltkulturerbe Doppeltes Berlin (Arno Brandlhuber, Tobias Hönig, Christian Posthofen), Beitrag zur Ausstellung Between Walls and Windows –Architektur und Ideologie, Haus der Kulturen der Welt, 2012 4 Henri Lefebvre: The Production of Space, Cambridge MA 1991, S. 54. Deutsche Übersetzung im Erscheinen: Die Produktion des Raums – The Productionof Space, Spector Books, Leipzig 2020weiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-931435-61-5 / 978-3931435615 / 9783931435615

Verlag: Arch+

Erscheinungsdatum: 15.12.2020

Seiten: 240

Auflage: 1

Zielgruppe: Architektur, Städteplanung, Politik, Wirtschaft, Verwaltung,

Autor(en): ARCH+ Verlag GmbH

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