Bestandsvoraussetzungen und Sicherungen des demokratischen Staates
Das Beispiel Türkei Hannah-Arendt-Lectures und Hannah-Arendt-Tage 2008
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Die Hannah-Arendt-Tage und die Hannah-Arendt-
Lectures wollen sich mit konkreten Themenstellungen
auseinandersetzen, die an sozialen und politischen Fragen
orientiert sind. Denn Politik, so Hannah Arendt, braucht
das philosophische Nachdenken über das, was ihr Alltagsgeschäft
ist. Über Probleme, die im politischen Alltag
unter dem Zwang des Handelns schnell gelöst werden
müssen, soll man genauer nachdenken. Politikerinnen
und Politiker sollen bei den Hannah-Arendt-Tagen in
Hannover durch den Austausch mit Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern neue Impulse bekommen.
Umgekehrt soll das Bewusstsein von Theoretikerinnen
und Theoretikern für praktische politische Probleme
geschärft werden.
Die Planung der Hannah-Arendt-Tage 2008 ging von
der Überlegung aus, dass das Thema, das in der Philosophie
als das Algerien-Problem diskutiert wird, weiterhin
und jederzeit virulent ist. Es geht dabei um die Frage, ob
sich eine Demokratie in Krisensituationen aus sich selbst
heraus stabilisieren kann. Ernst-Wolfgang Böckenförde
hatte das einmal in die Frage gekleidet, ob 'der freiheitliche,
säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen
zehrt, die er selbst nicht garantieren kann'.
In Algerien wurde diese Frage aufgeworfen, als sich
1991/92 bei den ersten freien Parlamentswahlen eine
Mehrheit für die Islamische Heilsfront abzeichnete, die
die Absicht äußerte, die islamische Gesetzgebung einzuführen.
Daraufhin wurde die Wahl abgebrochen, Präsident
Benjedid löste das Parlament auf und trat auf Druck
der Armee zurück. Eine Junta einflussreicher Generäle
verübte einen Staatstreich mit der Begründung, ein Sieg
der Islamischen Heilsfront hätte von der Demokratie zur
Theokratie geführt. Die Islamische Heilsfront wurde
aufgelöst und führt seither einen Guerillakrieg.
Ein vergleichbarer Fall: Am 25. Januar 2006 siegte in
Palästina die Hamas in demokratischen Wahlen und
verkündete als ihr Ziel, die Demokratie abzuschaffen.
Auch die Türkei wurde während der Regierungskrise
im Frühjahr und Sommer 2007 mit dieser Fragestellung
konfrontiert. Auslöser war die Wahl des Staatspräsidenten.
Die Kandidatur des damaligen Außenministers
Abdullah Gül, löste eine Reaktion des Militärs aus, das in
einer Erklärung ankündigte, die türkische Armee werde
den Laizismus der Türkei entschieden verteidigen und
dies auch mit Taten unter Beweis stellen. Der Versuch der
Intervention scheiterte schließlich – am Widerstand der
Regierung wie auch an Einwänden ziviler Gruppen, die
sich gegen eine Einmischung in demokratische politische
Prozesse aussprachen. Abdullah Gül ist seit dem 28. August
2007 Staatspräsident der Republik Türkei.
Auf die oben zitierte Fragestellung von Böckenförde
gibt es extrem kontroverse Antworten. Für Papst Benedikt
XVI., vormals Kardinal Joseph Ratzinger, ergibt
sich gar nicht erst die Frage, ob man den Staat allein auf
reiner Vernunft aufbauen könne. Dann entstünde ein
Staat, 'der von allen geschichtlichen Wurzeln gelöst ist
und dann auch keine moralischen Grundlagen mehr
kennen kann, die nicht jeder Vernunft einsichtig sind. So
bleibt ihm am Ende nur der Positivismus des Mehrheitsprinzips
und damit der Verfall des Rechts, das schließlich
von der Statistik gelenkt wird. Wenn die Staaten des
Westens sich vollends auf diese Straße begeben würden,
könnten sie auf Dauer dem Druck der Ideologien und
der politischen Theokratien nicht standhalten. Auch ein
laikaler Staat darf, ja, muss sich auf die prägenden moralischen
Wurzeln stützen, die ihn gebaut haben; er darf
und muss die grundlegenden Werte anerkennen, ohne die
er nicht geworden wäre und ohne die er nicht überleben
kann. Ein Staat der abstrakten, geschichtslosen Vernunft
kann nicht bestehen.' (Ratzinger, Joseph Kardinal: Werte
in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der
Zukunft, 2005, S. 136f.)
Demgegenüber formulierte Jan Philipp Reemtsma
kürzlich: Der Gedanke, dass 'Normen und Werte religiösen
Ursprungs seien – wir zehrten gleichsam von
diesem religiösen Grund, auf dem Vorstellungen wie
etwas die von der Gleichheit der Menschen (vorher:
vor Gott, später: vor dem Gesetz)' führe nicht weit.
'Erstens sind Ideen nicht ihren Entstehungskontexten
verpflichtet. Im Gegenteil: Wir entkleiden sie ja gerade
der Kontexte, denen sie ursprünglich verpflichtet gewesen
sind. Die Erinnerung an ihre Entstehung wird
ja gerade unternommen, weil ihnen davon nichts mehr
anzusehen ist.' (Reemtsma, Jan Philipp: 'Muss man
Religiosität respektieren? Über Glaubensfragen und den
Stolz einer säkularen Gesellschaft', in: Recherche. Zeitung
für Wissenschaft, 1. Jg., Nr. 1/2008, S. 8.)
Mit dieser Kontroverse setzen sich die Beiträge im
ersten Teil dieses Bandes grundlegend auseinander; die
Beiträge im zweiten Teil diskutieren die Problematik
am Beispiel der Türkei.
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