Noch ein Buch zu Brahms? Ist nicht das Meiste schon gesagt und geschrieben? Die Quellen scheinen bekannt und ausgewertet, die Musik ist in klingenden und gedanklichen Interpretationen zugänglich, ästhetische Positionen wurden verteidigt oder relativiert. Ist dem noch beizufügen? Die Antwort scheint einfach: Da interpretierende Auseinandersetzung mit bedeutender Kunst bekanntlich auf vielfältig verwobenen Wechselbeziehungen beruht, sagt sie - wenn auch selten explizit - nicht nur über die Eigenheiten und Bedingtheiten ihres historisch oft fernen Gegenstandes aus, sondern ebenso über die eigene geistige und ästhetische Gegenwart, die zu verleugnen nicht möglich ist. Diese hermeneutische Grundeinsicht aber rechtfertigt oder verlangt gar den immer wieder neuen Annäherungsversuch an Kunstwerke, wie sie, erkannt und bewusst miteinbezogen, den Interpreten vor nicht einfache Entscheidungen der praktischen Umsetzung stellt. So gilt es abzuwägen, wie deutlich und absichtsvoll das Eigene, das auch in den kunsthistorischen Wissenschaften mit guten Gründen in den Hintergrund gewiesen wird, zu gewichten ist. Konkret: Wie weit will und kann ich mir selbst und dem Leser den subjektiven Anteil eingestehen, wie weit will ich diesem angemessenen Raum
gewähren und wo liegen die Grenzen, die nicht zu überschreiten sind?
Die im Zentrum der Ausführungen stehende und bis anhin als solche eher wenig betrachtete Gruppe der sinfonischen Chorwerke scheint einem Gegenwartsbezug besonders offen, ihn teilweise geradezu herauszufordern. In wenigen anderen Werken von Brahms äussern sich in ihnen Zukunftsverunsicherung, Spätzeitskepsis, ja gar offener Pessimismus in derart ungeschminkt direkter, auch heute noch aufwühlender Ansprache. Stehen demnach das Nachdenkliche und Eingedunkelte der Musik von Brahms wie auch das damit verbundene, restlos nicht mehr einlösbare Bemühen um deren klassizistische Rettung im Vordergrund, sind andererseits die lichteren Seiten, die es auch gibt, nicht bestritten, nur eben bewusst weniger thematisiert. Ein Beleuchtungsproblem.
Für wen ist das Buch geschrieben?
Von Anbeginn war keine an den engen Kreis der akademischen Forschung gerichtete Publikation beabsichtigt. Der fantasierte ideale Leser dürfte jener musikalisch wie geistesgeschichtlich interessierte sein, der womöglich trotz geringerer Fachausbildung sich auf eine Schrift mit verbindlichem wissenschaftlichem Standard einzulassen gewillt ist. Vermieden wurde folglich eine allzu stark wuchernde und anspruchvolle musiktheoretische Terminologie. Und tritt sie in gewissen Analyseteilen dann doch in den Vordergrund, werden diese typografisch abgehoben. Sie können übersprungen werden. Liest man sie trotzdem, dürfte zumindest das Bemühen auffallen, auch solchen Abschnitten ein gewisses Mass an direkter sinnlicher Wirkungskraft zuzugestehen.
Das Buch umfasst nach einer Einleitung sechs Kapitel, je eines für die sechs vorgestellten Werke. Die Vertonungen stehen jeweils im Zentrum, sind freilich von Exkursen und Ausschweifungen
umgeben, die zum Teil ein gewisses Eigenleben führen. Momente der Irritation mögen dem Brahms-Freund einige kritische Beobachtungen und Bemerkungen zu den Vertonungen sein. Dies resultierten nicht aus schulmeisterlicher Selbstüberschätzung des Autors, sondern aus der persönlichen, platonisch genährten Überzeugung vom Annäherungscharakter grosser Kunst, von deren nie restlos belohntem, in Spätzeiten noch besonders prekärem Streben nach Vollendung. Im Werk von Brahms kann sich das Moment des nicht völlig Gelungenen so verstanden gar zur faszinierenden ästhetischen Qualität wenden. Weitere Informationen erhalten Sie im Internet unter www.editionargus.deweiterlesen