Da muss man doch etwas tun!
Zur Geschichte des „Kautsky-Bernstein-Kreises e.V." (1990-2006)
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, 1946 aus der nicht durchweg freiwilligen Vereinigung von Sozialdemokratischer und Kommunistischer Partei Deutschlands hervorgegangen, hatte an ihrem Ende, 1989, etwa zweieinhalb Millionen Mitglieder. Vollkommen klar, dass darunter auch Menschen waren, die noch lange insgeheim besseren braunen Zeiten oder der stählernen Sonne, die nicht wärmte, nachtrauerten. Die große Mehrheit aber wollte das Beste für ihr, „für unser Land“, für die DDR. Die Menschen wollten das Soziale: In einem Land leben, in dem das Wohnen als soziales Problem gelöst, in dem Wohnen für alle bezahlbar war und als Menschenrecht angesehen wurde. Sie wollten in einem Land leben, in dem Jeder und Jede Arbeit hatte, wofür der Staat höchstpersönlich die Verantwortung übernahm. In einem Land, in dem es keine Arbeitslosen, keine Obdachlosen gab, wo der Spaßjournalist Schwarz einen Aufruhr verursachte, als er sich vor dem Leipziger Hauptbahnhof – verkleidet als arbeitsloser Bettler – in Szene setzte. Sie wollten Bildung und Gesundheit für alle, kostenlos, jedem nach seinen Bedürfnissen, ohne Ansehen der Person. Sie wollten gut essen und trinken und einen preiswerten öffentlichen Nahverkehr. Sie wollten eine Gesellschaft der Gleichen.
Die Menschen wollten Konsum: Landschaften, die nicht nur blühten, sondern von ordentlichen Autos, Fernsehern, Computern, Gaststätten, Hotels und Freizeitvergnügungen voll waren. Sie wollten reisen, wann und wohin immer, mit der Reisefreiheit begann für sie die Freiheit.
Die Menschen wollten Demokratie: Nicht nur Mitbestimmung im Kleinen, im Betrieb, in der Schule, in der Arbeitsgemeinschaft. Sie wollten politische Mitbestimmung, den Kurs ihres Landes in freien Wahlen mit bestimmen. Sie wollten Reisefreiheit unverzüglich, ohne Wenn und Aber. Sie wollten ihre Meinungen frei und offen vertreten können und dürfen, sie wollten Meinungsfreiheit. Sie wollten eine Gesellschaft der Freiheit.
Sozial und Demokratie hatte für viele der 2 500 000 Parteimitglieder einen verheißungsvollen Zukunftsklang. Wer im Geschichtsunterricht oder beim Geschichtsstudium aufgepasst hatte, wusste, wie in der deutschen Sozialdemokratie um diese Verheißung gerungen wurde, wie stark die Freiheit des Andersdenkenden Teil sozialdemokratischer Überzeugung war. Zurück zu den Wurzeln! Keine schlechte Idee, dachten viele, nach der unaufhaltsamen Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Zurück zum „linken“ Kautsky, zurück zum „rechten“ Bernstein war der Leitgedanke der Gründer des Kautsky-Bernstein-Kreises. In der Sozialdemokratischen Partei mitzuarbeiten, eine gute Idee, dachten viele, die der Einheitspartei den Rücken gekehrt hatten. Die Reaktion war verblüffend, ja für die Meisten maßlos enttäuschend. Die CDU hatte umstandslos die Ost-CDU und die Ost-Bauernpartei geschluckt, die FDP die Ost-Liberalen und die ostdeutschen Nationaldemokraten. Lag es da nicht nahe, dass die SPD die Teile der Sozialistischen Einheitspartei aufnähmen, die keinen Dreck am Stecken hatten und sich sozial-demokratischen Überzeugungen nahe fühlten?
Es lag nicht nahe. Die Sozialdemokratie lehnte die Aufnahme von SEDlern grundsätzlich ab, verbot sogar Parteifernen, das „Markenzeichen“ sozialdemokratisch auch nur zu benutzen. Die Herausgeberin des vorliegenden Buches verfolgt diese Ablehnung, ihre Folgen und ihre Gründe im Einzelnen.
Zu Recht machte Elisabeth Noelle-Neumann vom Allensbach-Insti-tut schon 1990 den (dialektischen!) Widerspruch zwischen Gleichheit und Freiheit für das Aufbrechen vieler Widersprüche zwischen Ost- und Westdeutschen namhaft. Ostdeutsche hielten Gleichheit, Westdeutsche Freiheit für das höchste Gut. Ostdeutsche betonten das Soziale, Westdeutsche das Demokratische stärker, ein Widerspruch der bis heute fortwirkt. Hinzu kamen simple, sehr menschliche Gründe für die Ablehnung. Die Gründer der ostdeutschen Sozialdemokratie, Pfarrer und Menschenrechtler, waren sich sehr bewusst, dass unter den zweieinhalb Millionen auch exzellente Psychologen, Juristen, Historiker, Soziologen und Politologen waren, von denen nicht wenige mit dem Charisma-Gen des guten Politikers, der guten Politikerin gesegnet waren; Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht mögen als Beispiele dienen.
So kam es, wie es nicht hätte kommen müssen: Entgegen dem Streben von Egon Bahr und manch anderen Realpolitikern verzichtete die westdeutsche Sozialdemokratie auf ostdeutsche Anstöße, blieb in den Neuen Bundesländern mitglieder- und ideenschwach. Eine Regine Hildebrand, ein Manfred Stolpe machten noch keinen sozialdemokratischen Sommer. Ostdeutsche Demokratieskepsis hat hier eine ihrer Wurzeln. Die erst kürzlich erfolgte Einladung an Mitglieder der Linken, doch der SPD beizutreten – von der Herausgeberin kommentiert – ist wirkungslos und geschichtsvergessen.
Wer wissen will, was für ein Potenzial dem sozialen, demokratischen Wollen in Deutschland verloren gegangen ist, mag die Briefe lesen, die hier sorgfältig und zusatzlos ediert sind. Er mag den Gedanken- und Gefühlsreichtum der Menschen im Umbruch nachempfinden, die hier zu Wort kommen. Vielleicht wird er sich sogar für die fast vergessenen, bis heute anregenden Einsichten von Kautsky und Bernstein interessieren?weiterlesen
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