Dann halt ohne Dich!
Ein Leben ohne Vater, ein Justizskandal und ein Nachkriegsmärchen
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Wo ist Wilhelm Ehlers?
Anfang 1955 erklärt die Sowjetunion den Kriegszustand mit Deutschland für beendet. Zehn Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Die Wunden sind längst nicht verheilt.
1955 ist auch das Jahr, in dem die letzten deutschen Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Lager Friedland bei Göttingen ankommen. Der Krieg ist beendet, jedoch weiter gegenwärtig, nicht nur in der Erinnerung. Auch in den Städten, die noch lange nicht wieder aufgebaut sind. Schon beginnt ein neuer Wettlauf um die Vorherrschaft in der Welt: In West-deutschland wird die Bundeswehr gegründet, die Bundes-republik wird Mitglied der NATO. In der DDR treten erstmals öffentlich die bewaffneten Kampfgruppen auf, ein Jahr später wird die Nationale Volksarmee gegründet. Länder in Osteuropa schließen 1955 den Warschauer Vertrag und gründen den gleichnamigen Pakt als Gegengewicht zur NATO.
1955 taucht Otto John, der erste Verfassungsschutzpräsident der BRD, der ein Jahr zuvor überraschend und unter mysteriösen Umständen in die DDR gelangt war, plötzlich wieder im Westen auf. Wegen Landesverrats wird er zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein Verschwinden und Wiederauftauchen gibt Rätsel auf. Es heißt, er sei freiwillig in die DDR gegangen, weil er vermeinte, dort mehr für die Wiedervereinigung tun und einen neuen Krieg verhindern helfen zu können.
Menschen kommen und gehen, und manchmal, so scheint es, lassen es die Umstände nicht zu, dass sie selbst denen, die ihnen am nächsten stehen, ihr Verhalten erklären.
Es ist Winter 1955. Ich bin fünfzehn Jahre alt und sitze mit meiner ältesten Schwester Katrin in unserer spärlich eingerichteten Wohnung in Göppingen. Wir langweilen uns. Da entdecken wir den Schlüssel für den Überseekoffer. Mutter hütet ihn wie ihren Augapfel und trägt ihn stets bei sich, doch heute muss sie ihn in der Eile liegengelassen haben. Der mit grünem Leinen bespannte und außen mit Holzleisten verstärkte Koffer ist ein Erbstück von Großmutter Emilie, die einige Jahre in den USA gelebt und ihn von dort mitgebracht hatte. Er war in unseren Besitz gelangt, als die Großeltern während des Krieges einige ihrer Sachen aus ihrer Wohnung im Keller unserer Leipziger Wohnung gelagert hatten. Auf unserer Flucht aus der DDR war er eines der wenigen Gepäckstücke, die wir mitnahmen. Da wir in unserer Wohnung in Göppingen kaum Möbel besitzen, dient uns Großmutters Überseekoffer als Tisch: Tassen und Teller stehen wackelig darauf. Allerdings besitzen wir kaum Geschirr oder sonstigen Hausrat.
Manchmal benutzt Mutter eine Blechdose zum Kochen. Obwohl wir jeden Tag um den Koffer herumsitzen, ist der Inhalt für uns tabu. In den seltenen Fällen, in denen Mutter ihn öffnet, schickt sie uns nach draußen. Was mag wohl darin sein? Warum hält Mutter es vor uns verborgen? Schon oft haben wir unsere Neugierde besiegt. Doch nun bietet sich eine günstige Gelegenheit.
„Komm, wir schauen mal nach!“, schlage ich Katrin vor.
Sie ziert sich: „Aber. das dürfen wir doch nicht! Mutter hat es uns verboten.“
„Möchtest du denn nicht wissen, was in dem Koffer ist?“
„Doch, schon. Aber.“
„Na also!“
Ich weiß, dass meine Schwester genau so begierig darauf ist wie ich, wenigstens einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Nur einen klitzekleinen Blick. Schließlich willigt sie ein.
Obwohl wir in der Wohnung allein sind, werden unsere Knie weich, als wir den Schlüssel holen und das Schloss öffnen. Was, wenn Mutter unerwartet nach Hause kommt? Wenn sich plötzlich der Schlüssel im Türschloss dreht und sie vor uns steht?
Vor lauter Aufregung werden unsere Hände feucht, als wir den Deckel des Koffers vorsichtig anheben. Das Herz klopft uns bis zum Hals.
„Bloß nichts durcheinanderbringen. Mutter darf auf keinen Fall etwas merken.“, ermahne ich Katrin, die schon in den Sachen wühlt.
Wir finden zusammengefaltete Seiten, beschrieben und bedruckt, ein paar Briefe sind darunter. Muss Mutter deswegen solch eine Geheimniskrämerei betreiben?
Gerade wollen wir den Koffer wieder verschließen, da lese ich auf einem der Zettel die Worte „letzte Adresse: Hamburg.“ Das Schreiben kommt vom Hamburger Einwohnermeldeamt. Um wen geht es da? Ich lese weiter und finde einen Namen: „Wilhelm Ehlers“. Fragend schaue ich meine Schwester an. „Das ist unser Vater“, sagt Katrin.
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