Das andere Antlitz von Borges /El otro semblante de Borges
Fotobuch mit einem Essay von Issa Makhlouf und einem Tischgespräch mit Jorge Luis Borges
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Kann man das Unfaßbare erfassen? Kann man das Antlitz dessen begreifen, der sich vor der Ewigkeit fürchtete? Er, der dem Brandstifter der alten Bibliothek von Alexandrien ein Gedicht widmete und keine Scheu hatte, seine Bücher in seiner Bibliothek neben die Werke von Dante, Cervantes und Tausendundeine Nacht, die seit Jahrhunderten in Abwesenheit ihres Autors lebt, zu stellen?
Kann man einen Blinden, einen Visionär fotografieren?
Einen Blinden, dessen Augen weit geöffnet sind.
Das führte zu einem Anhaltspunkt: einem Blick. Was bleibt, wenn der Blick verworren ist, wenn er anderswohin geht, gerichtet ins Unsichtbare?
Darin besteht die Herausforderung. Enrique Hernández-D‘Jesús hat das sehr wohl verstanden. Als er Borges fotografierte, gab er sich nicht mit seinem durchdringenden und sensiblen Auge zufrieden, sondern er griff auch auf seine poetische Intuition zurück.
In seinen Fotos finden wir das Sein und seinen Doppelgänger, mehr noch: das Sein in seiner Vielfalt. 'Alle Borges in Borges', wie er selbst unterstreicht. Hier verbirgt sich in jedem Portrait ein anderes, wie sich im Sandbuch ein Buch hinter dem anderen verbirgt. Insofern lädt uns Enrique Hernández-D‘Jesús dazu ein, in eine Fotogalerie hineinzugehen wie in eine Bibliothek.
Dennoch verweist diese Vielfalt wieder auf die Einheit. Im Colloquium der Vögel erzählt der persische Dichter und Mystiker Farid Eddine El-Attar von der Reise der Vögel, die sieben wunderbare Täler auf der Suche nach dem Simorgh überqueren. Am Ende der sehr langen Reise entdecken die Vögel, daß sie, wenn sie ganz in ihrem erhabenen Vogelkönig aufgehen, sich selbst entdecken. So sind die Fotos vielfältig, aber ihre Identität ist einzig.
Andererseits betont die Fotografie die Abwesenheit als Behausung und Spiegel vergangener Augenblicke. Roland Barthes sagte, daß sie die Vergangenheit mit Wirklichkeit durchdringt. Der Geist der Fotografie läßt sich für ihn in eine einzige Formel zusammenfassen: das Fotografierte 'hat existiert'. Von dieser Existenz aus versuchen wir die Beziehung zwischen Leben und Tod zu erkunden, und vertrauter noch, zwischen Liebe und Tod. Hat die Fotografie nicht die Fähigkeit, das Gewesene wieder aufleben zu lassen? Hier ist es angebracht, daran zu erinnern, daß die Fotos durch die Abwesenheit der fotografierten Person eine andere Dimension erlangen.
Bei Borges bekommt der Sinn der Fotografien noch einen anderen Sinn. Er verbindet sich mit seiner Sicht der Wesen und Dinge, der Gegenwart und Vergangenheit, des Wirklichen und Unwirklichen, zumal seine Literatur die Grenzen zwischen jenen Polen aufhebt, indem das Rätsel bis an die äußerste Grenze gebracht wird.
Borges, der Sohn der Erinnerung, schreibt die Welt fest, wie der Fotograf eine Landschaft festhält. Er schöpft aus allem, was sich in eine Erzählung verwandeln läßt. Für ihn besteht die menschliche Erfahrung darin, ein Buch zu schreiben. In seiner Neugierde auf die Welt erfindet er Bilder, um sich darin einzurichten. 'Wang-Fo liebte die Bilder der Dinge, nicht jedoch die Dinge selbst', berichtete Marguerite Yourcenar. Borges äußerte sich manches Mal, daß er die Bilder mehr als die Ideen liebte. Da denkt man an die bewundernswerte Äußerung von Rimbaud in Illuminations: 'Im großen, noch triefnassen Glashaus betrachteten die trauernden Kinder wundervolle Bilder.'
Borges bewegt sich in den Fotos von Enrique Hernández-D‘Jesús, obwohl das Foto im Grunde die Wesen unbeweglich macht. Die Auswahl des Schwarzen und Weißen beim Fotografen hat diesen Aspekt betont: die Farbe stellt sich nicht zwischen dem Sujet und der Person, die betrachtet wird.
Diese Fotos entstanden 1982 in Caracas, vier Jahre vor dem Ableben von Borges. Der Autor war 83 Jahre alt und änderte sein Aussehen seitdem nicht mehr. Er blieb, wie er war, und so wird er für immer verbleiben. Als wäre das Leben in den Fotos ein anderes Leben. Borges bleibt in ihnen lebendig, nicht durch die Erinnerung, sondern durch die Kraft des Ausdrucks.
Diese Bilder gehen über den in der Zeit und im Raum begrenzten Augenblick hinaus. In diesem Antlitz nehmen wir die Gesichtszüge der großen blinden Schriftsteller im Zeitenlauf der Jahrhunderte wahr, wie zum Beispiel Homer, Milton oder Abul Ala Al Maarri, und wir erkennen einen Teil unserer eigenen Gesichter.
Auf der Suche nach dem verborgenen Sinn des Daseins bezaubert und erstaunt uns Borges, dieser 'metaphysische Erzähler', nach wie vor durch die außergewöhnlichen Fotografien von Enrique Hernández-D‘Jesús, diese Bilder, die beeindrucken wie ein Lobgesang auf die Erinnerung und Schönheit.
Issa Makhlouf
Als Jorge Luis Borges (1899-1986) in den frühen achtziger Jahren Caracas besuchte, lud ihn der venezolanische Künstler, Fotograf und Dichter Enrique Hernández-D’Jesús zu einem kreativen Treffen ein, bei dem sich ein ungewöhnlicher künstlerischer Dialog entwickelte, der hier fotografisch zu genießen ist. Die Fotos vermitteln verschieden Stimmungen des argentinischen Altmeisters, mal nachdenklich, begeistert oder verträumt, immer aber unverstellt und nahbar. In der Zusammenschau ergibt sich eine Hommage und ein literarhistorisches Dokument, in dem vor allem der Mensch Borges sichtbar wird, der mit seiner Blindheit wie selbstverständlich umging.weiterlesen
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