Obwohl es sich vor unseren Augen tagtäglich wiederholt, hat das Wunderwerk „Spracherwerb“ jedes Mal wieder etwas Faszinierendes. Innerhalb einiger Jahre erwirbt fast jedes Kind die Grundzüge einer oder mehrerer Sprachen auf eine Art und Weise, die in seinem weiteren Leben nie wieder so sein wird wie in der Kindheit. Besonders faszinierend ist die Perspektive der Kinder auf die Sprache(n), denen sie begegnen. Ob es die Frage ist: „Warum heißt es Mannheim? Wohnen da nur Männer?“ oder der logische und kreative Umgang mit Äußerungen wie „Die große Spinne ist die Mama. Papa ist der große Spinner“: Kinder haben stets einen hinterfragenden, nach Logik suchenden, einen – anders als bei Erwachsenen – noch nicht festgefahrenen kreativen Blick auf die Sprache. Wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen, kommt zu diesem kreativen Blick noch eine weitere Dimension dazu, die Dimension der Einsicht, dass es andere Sprachen gibt und dass diese andere Regeln sowie eine andere Logik haben. So erklärt ein Junge, der eine deutsch-englische bilinguale Kita besucht, seiner Mutter, die fragt, ob die englischsprachige Erzieherin seine Sorgen (auf Deutsch) verstehen kann: „Aber Mama, es gibt doch auch englische Sorgen!“ „Ich gehe in die arabische Gruppe, Türkisch kann ich ja schon“, ist die Äußerung eines einsprachig Deutsch aufwachsenden Mädchens in der deutsch-türkischen bilingualen Gruppe. Das Türkische war ihm so vertraut geworden, dass es „Türkisch schon konnte“ und ein Angebot auf Arabisch in einer anderen Gruppe wahrnehmen wollte. Diesen souveränen und lockeren Umgang wünscht man manchmal uns Erwachsenen auch. Der vorliegende Erfahrungsbericht beschreibt den spannenden Prozess einer deutsch-türkischen bilingualen Gruppe in Essen. Im Rahmen des Projekts „Ich Lerne Zwei Sprachen“, das in Essen zwischen 2014 und 2018 durchgeführt wurde, hat sich die städtische Kindertagesstätte „Schwedenheim“ mit einer Gruppe auf den Weg gemacht, diese in eine deutsch-türkische bilinguale Gruppe umzuwandeln. Wie es zustande kam, was hier anders als in den sonst typischen bilingualen Gruppen war und welche Erfahrungen in dieser Gruppe gemacht wurden, sind Inhalt dieses Berichts. Der Aufbau gestaltet sich folgendermaßen: Zunächst geht es um die Fragen: Wer oder was ist bilingual? Welche Konzepte und Modelle gibt es zur bilingualen Erziehung? (Wie) Kann in einem mehrsprachigen Kontext bilingual gearbeitet werden? Im weiteren Verlauf stellt sich das Essener Projekt „Ich Lerne Zwei Sprachen“ vor. Mit welchem Anliegen, welchen Zielen und Voraussetzungen fing es an? Welche Konzeption und welches Modell wurden wie umgesetzt? Danach folgt ein Blick auf die sprachliche Entwicklung der Kinder. Dieses Kapitel erläutert die Umsetzung des Konzepts und die Erfahrungen im ersten und zweiten Kindergartenjahr in der bilingualen Gruppe. Das dritte Kindergartenjahr 2016/2017 bekommt eine besondere Aufmerksamkeit. In diesem Jahr hat im Rahmen einer Doktorarbeit eine Datenerhebung zur sprachlichen Entwicklung der Kinder in der bilingualen Gruppe stattgefunden. Auf diese Datenerhebung gestützt betrachten wir die sprachliche Entwicklung der Kinder in der bilingualen Gruppe in beiden Sprachen etwas näher. Nach einer kurzen Einführung dazu, welche grundlegenden Kriterien für die Beobachtung von sprachlichen Entwicklungsprozessen zur Verfügung stehen, stellen wir die Befunde vor. Auch die Eltern sowie die pädagogischen Kräfte sollen zu Wort kommen. Ihre Eindrücke und Erfahrungen in der Umsetzung der bilingualen Gruppe sowie die pädagogische Praxis sollen am Ende dieses Berichts als Praxisleitfaden Berücksichtigung finden. Zu guter Letzt folgt ein Fazit der bisherigen Erfahrungen in der deutsch-türkischen bilingualen Gruppe. Welche Erkenntnisse haben wir gewonnen? Was ist positiv, welche Herausforderungen gibt es in einer solchen Gruppe? Und was könnte nächstes Mal besser gemacht werden? Abschließend berichtet die Kita in dem Kapitel „Aus der Praxis“ selbst über die eigenen Erfahrungen.weiterlesen