Das flexible Vielfachwesen
Einführung in die moderne philosophische Anthropologie zwischen Bio-, Techno und Kulturwissenschaften
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Immanuel Kant schrieb in seiner Logikvorlesung: 'Das
Feld der Philosophie ist in weltbürgerlicher Bedeutung,
in weltbürgerlicher Absicht auf folgende Fragen zu bringen:
1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was
darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage
beantwortet die Metaphysik. Die zweite die Moral. Die
dritte die Religion. Die vierte die Anthropologie. Im
Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie
rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte
beziehen.'
Die Frage, was der Mensch sei, ist natürlich zunächst
sehr allgemein. Die Beziehung der anderen Fragen auf
diese übergreifende Grundfrage ist einerseits, oberflächlich
gesehen, geradezu selbstverständlich, andererseits
bleibt dieser Bezug jedoch noch offen. In welcher Hinsicht
will man den Menschen verstehen? Als Person, als
intellektuelles Geistwesen, als biologischen Organismus,
als soziales Gruppenwesen?
Deswegen wäre es insgesamt vielleicht besser, wenn
man nicht die Frage stellte, was der Mensch ist, sondern
als was wir bei solchen Fragen den Menschen verstehen
bzw. auffassen. Ist es nicht recht unterschiedlich, wie der
Ausdruck ›Mensch‹ verstanden bzw. angewandt wird
– je nach Frageperspektive, je nach der Kultur, Sprache
usw.?
Friedrich Nietzsche hat gegen Ende des letzten Jahrhunderts
bewusst doppeldeutig formuliert, der Mensch sei
das 'nicht festgestellte Tier'. 'Nicht festgestellt' – das
heißt einerseits nicht erkannt, andererseits heißt es aber
auch, nicht auf bestimmte Nischen der Umwelt, auf bestimmte
Funktionen festgelegt. Der Mensch ist nicht in
jeder Hinsicht auf eine Umwelt fixiert. Er ist das flexible
und 'plastische' Wesen, ein Ausdruck, der später von
Scheler aufgenommen wird. Dieser hebt insbesondere
hervor, der Mensch sei das weltoffene Wesen. (Nur)
Menschen haben die Fähigkeit, sich flexibel und eben
'plastisch' an sehr viele unterschiedliche Umwelten
anzupassen, in diesen zu leben, Signale, Zeichen, Anregungen
aus der Welt aufzunehmen und zugleich auch die
Welt mitzugestalten.
Der Mensch ist also auch das Welt 'herstellende' bzw.
umgestaltende Wesen. Dieses Moment hat in der späteren
anthropologischen und technikphilosophischen Diskussion
eine wichtige Rolle gespielt. Dabei hat man den
Menschen nicht nur nach seiner Einpassung in die Welt,
in Bezug auf seine Anpassung an die Welt gedeutet, sondern
sich zumal auf die Herstellung von Welten bezogen,
in denen er lebt. Der Mensch lebe in gleichsam 'gemachten
', umgeänderten, also: 'künstlichen' Welten.
Das ist eine bedeutsame Einsicht in der Entwicklung der philosophischen Anthropologie geworden. Insbesondere
Helmuth Plessner hat dies herausgestellt. Auch der spanische Lebensphilosoph Ortega y Gasset betont die Idee,
dass der Mensch das Wesen ist, das auf ein künstliches Ambiente, auf etwas Gemachtes, selbst Gemachtes, auf
eine kulturelle Welt, auf ein kulturelles Universum – oder wie Ernst Cassirer sagt – auf ein 'symbolisches Universum ' angewiesen ist: eine Symbolwelt, in der er gleichsam geradezu 'lebt'. Wir leben nicht mehr nur in einer natürlichen Welt allein, sondern in einer kulturellen Welt.
Wir sind in tiefster Weise kulturgeprägt, wir sind Kulturwesen.
Wir leben in einer Kultur, die uns zur 'zweiten
Natur' geworden ist (der Ausdruck stammt von Plessner
und wurde von Arnold Gehlen besonders verbreitet).
Der Mensch ist auf die 'zweite Natur', das heißt auf die
Kultur, angewiesen; er ist das kulturelle Wesen, welches
das zunächst biologisch gesehen fast Überflüssige als
'notwendig' empfindet, also notwendigerweise in einer
solchen künstlichen Welt der 'zweiten Natur' lebt.
Wir machen uns die 'zweite Natur' selber, aber wir sind
auf diese existentiell angewiesen. Wir müssen zum Beispiel,
wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren,
Sprache verwenden. Und Sprache ist das kulturelle Instrument
par exellence. Wir müssen kulturelle Regelungen,
Formierungen, Konventionen, Gebräuche, Sitten,
Regeln usw. prägen, entwickeln und benutzen, damit wir
sinnvoll, verlässlich und Rücksicht aufeinander nehmend
miteinander umgehen können. Der Mensch ist also das
Wesen, das auf Kultur, auf eine Art von Künstlichkeit
– oder wie Plessner paradox formuliert – eine Art von
'künstlicher Natürlichkeit' angewiesen ist. Er ist das
Wesen, das über den bloßen Naturzusammenhang hinausgreift
– sich als Wesen versteht, das sich in gewissem
Sinne selber erst entwickelt, durch Kultur bildet, in ihr,
durch sie heranreift.
(Aus: 'Was ist der Mensch?' Grundfrage und Vielfalt
der philosophischen Anthropologie)
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