Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem /That bodies speak has been known for a long time
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Dass die Körper sprechen, auch das wissen seit langem.*
Hemma Schmutz, Tanja Widmann
Dieser Satz als Titel von Ausstellung und Katalog leitet ein Thema ein: den Körper in
seiner Sprachlichkeit. Beim Lesen dieses Zitats von Gilles Deleuze ergeben sich zwei
Denkansätze: der Verweis auf ein Wissen, das bereits etabliert – vielleicht auch fixiert –
scheint, und die gleichzeitige, implizite Wendung, dass dieses Wissen neuerlich verhandelt
werden kann: In welchem Sinn produzieren Körper also Sprache, und wie werden
sie selbst von ihr erfasst und definiert, welche Aktionsmöglichkeiten eröffnen sich?
Der Körper, betrachtet in einem Detail – der Geste
Wir nähern uns dem sprechenden Körper diesmal über den Blick auf einen Ausschnitt
seiner Möglichkeiten, die Geste, an. Bereits in der in 79 Bildtafeln angelegten kulturwissenschaftlichen
Studie, dem Mnemosyne Atlas (1925-29) zeigt Aby Warburg die für
gegensätzliche Interpretationen offene Struktur der Geste: In der vergleichenden Montage
von kunstgeschichtlichen Werken der Antike und Renaissance wurde für Warburg
deutlich, dass die von ihm so bezeichneten Pathosformeln – die in Gesten formulierte
heftige Bewegung des Körpers durch Emotionen – im Laufe der Zeit mit neuen Bedeutungen
aufgeladen werden können. So kann dieselbe Geste Furcht wie Euphorie bedeuten,
Trauer wie Freude, Befreiung wie Verfall. Dies führt zum Verständnis der Geste in
ihrer Zitatform. Im Ausdruck der Geste liegt also weniger die Expression der Innerlichkeit
einer einzelnen Künstlerin, eines einzelnen Künstlers, denn ein sprachlicher Akt in
seiner Wiederholbarkeit. Darin liegt die Möglichkeit der neuerlichen Interpretation bzw.
Auslegung und das performative Potenzial.
In den letzten Tafeln des Atlas löst Warburg sich von rein historischen Ansätzen,
bringt zeitgenössisches Bildmaterial ein und zeigt die Pathosformeln in ihrer alltäglichen,
banalen Vervielfältigung. Die zu Zeichen geronnenen Gesten können je nach Kontext aufgenommen
und interpretiert werden. So stellen sich ganz grundlegende Fragen: In welche
Art der (Macht-)Rhetorik ist die Geste eingebunden, durch welchen Diskurs wird sie hervorgebracht,
wer setzt und interpretiert sie zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte?
Zu dieser für neue Bedeutungen offenen Wiederholbarkeit fügt sich die Möglichkeit,
in der Geste widersprüchliche Bedeutungen zu fassen. Im bereits zitierten Text
beschreibt Gilles Deleuze eine Geste der Lukretia folgendermaßen: „Zum Beispiel: Ein
Arm stößt einen Angreifer zurück, während der andere Arm wartet und ihn zu umarmen
scheint. Oder eine Hand stößt zurück, kann dies aber nicht tun, ohne zugleich das
Handinnere darzubieten.“1
Das politische Handlungspotenzial der Geste wurde wiederholt in ihrem Potenzial
an Widersprüchlichkeit, Performativität und Ambivalenz verortet.2 Der mehrdeutige
Körper enthält auch eine mögliche Ebene der Subversion: Er kann die bezeichnenden
(Macht-)Systeme insofern unterlaufen, als er sich vielfachen Bezeichnungen gleichzeitig
darbietet. Dadurch eröffnet er ein Feld der Ungewissheit und provoziert ein Denken, das
in „leibhafte Geistesgegenwart“3 gewendet, unvorhergesehene Handlungsräume nützt.
In der Ausstellung richtet sich unser Interesse auf diese Gesten der Ambiguität,
des Widersprüchlichen in künstlerischen Produktionen: In welcher Form wird dieses Denken
eines Körpers, der Aussagen produziert und sich denselben gleichzeitig entgegenstellt,
aufgegriffen? Wie also gerät die Geste ins Bild, und welche Implikationen haben
die unterschiedlichen ästhetischen Setzungen für ein Verständnis von möglichem
sozialen und ethischen Handeln?
Der Filmemacher Jean Luc Godard wies immer wieder darauf hin, dass das
Denken und der politische Handlungsraum in der Verbindung, also zwischen den Bildern,
aber auch zwischen Bildern und Tönen liegt. Im Bezug auf die Geste, die immer
auch in der Zeit gedacht werden muss, heißt dieser Zwischenzustand, der Zustand der
Schwebe auch, dass die Aussage (noch) zu keinem Ende geführt ist, Bedeutungen
(noch) nicht fixiert sind, die Bewegung kein Ziel hat und vor allem nicht vorschreibend
wirkt. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten ist es wichtig, sich auf noch nicht zu
Ende geführte Handlungen zu beziehen; aber auch zu sehen, ob sich Lücken, offene
Stellen in abgeschlossen wirkenden Bewegungen ergeben, die neue Handlungsoptionen
erschließen.
Die Geste, auf den folgenden Seiten
Der Katalog widmet sich den Handlungsmöglichkeiten in der Geste in unterschiedlichen
Auslegungen: in der Erörterung ihrer Funktion im Rahmen der Genderkonstruktion im
Kunstkontext bei Sigrid Adorf, in der Herausarbeitung der ethischen Möglichkeiten bei
Giorgio Agamben und im Text von Anja Streiter in der Beschreibung der Arbeit von
RegisseurInnen, die „vor ihren DarstellerInnen in Wartestellung gehen“, um dieses
ethische und politische Potenzial der Gesten im Schauspiel zu erfassen. Eine banale
und doch exzentrische Geste der Selbstinszenierung bei Garbo und Warhol führt
schließlich aus dem Buch hinaus, aber auch zurück zur Frage nach den Produktionsund
Lebensformen der Autorin, Jutta Koether, und der LeserInnen.
* Dieser einleitende Satz, auch Titel der Ausstellung, ist der deutschen Übersetzung eines Textes von
Gilles Deleuze entnommen: „Pierre Klossowski oder Die Sprache des Körpers,“ in: P. Klossowski,
George Bataille u.a., Sprachen des Körpers. Marginalien zum Werk von Pierre Klossowski, Merve,
Berlin 1979, S. 43. Eine frühere französische Fassung dieses Textes ist 1965 in der Zeitschrift
Critique erschienen.
1 Gilles Deleuze, a.a.O., S. 43f
2 Hier verweisen wir nicht nur auf den bereits zitierten Text von Gilles Deleuze, sondern auch auf den
im Katalog erneut abgedruckten Text von Giorgio Agamben, „Noten zur Geste“ (Erstveröffentlichung
in: Politik und Postmoderne, edition diskord, Tübingen 1992, S. 97-107), hier ab S. 39 oder die Ausführungen
von Norman Bryson zu Le Brun und Watteau in: Word and Image, Cambridge University
Press, Cambridge 1981, S. 29-88. Im Weiteren wäre es interessant, Judith Butlers Ausführungen
zur Unmöglichkeit von Identität in Körper von Gewicht, Berlin Verlag, Berlin 1995 auf die Idee der
Geste zu übertragen.
3 Walter Benjamin, „Madame Ariane – Zweiter Hof Links“, in: Einbahnstraße, Suhrkamp, Frankfurt a. M.
1955, S. 115. Benjamin verweist mit diesem Begriff auf den Moment, als Scipio Carthago betritt und
stolpert, dann aber im Fallen das Stolpern zu einer Geste des Sieges wendet, indem er die Arme
hochreißt und ausruft: „Teneo te, terra Africana“.weiterlesen
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