Der Augenschein
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Dies ist der Versuch, auf einige Aspekte der kulturellen Entwicklung aufmerksam zu machen, die unserem Zeitbewusstsein immer wichtiger werden. Niemand zweifelt daran, dass Digitalisierung eine wichtige Sache ist und der Erfolg von Volkswirtschaften und Staaten wird daran gemessen, wieweit sie zu ihrer Entwicklung beitragen, und sie fördern. Und der Fortschritt einer Gesellschaft wird daran gemessen, ob es gelingt, die Datenmassen, die erhoben wurden, in eine behand-lungsfähige Form zu bringen, d.h. in Planungsvorgänge einzubeziehen.
Es findet also eine Rationalisierung statt, die aber in zwei Richtungen weist: Einerseits die Unaufhaltsamkeit der technologischen Entwicklung (KI), das mühseliges Wiederholen von gedanklichen und technischen Operationen erspart, andererseits den Rückverweis in die Lebenswelt, in der uns nichts erspart bleibt und in der wir auf Verständigungssymbole angewiesen sind, die an Wertorientierungen hängen, die wir nicht wegrationalisieren können. Nun aber leben in einem Wert-Chaos. Denn der Diskurs über "letzte" Wertvorstellungen ist eben unendlich wie die Erweiterungsmöglichkeiten der digitalen Welt. Dazu kommt, dass der Rekurs auf angeblich "letzte Werte" diskreditiert ist, denn sie sind durch noch höhere relativierbar. Dieses Relativismus-Problem wurde schon vor der "digitalen Revolution" gesehen, so z. B. von Richard Rorty (1931-2007), den ich zum zweiten Mal zitiere und übersetze): Er meinte in einer Vorlesung, 1983:
„Es gibt prinzipiell zwei Wege, durch die das reflektierende Menschenwesen versucht, das Leben in einen größeren Zusammen-hang zu stellen, diesem einen Sinn zu verleihen. Erstens durch die Erzählung der Geschichte. Die Geschichte ihres Beitrags zur Gemeinschaft (community). Die Gemeinschaft ist entweder die reale, in der wir leben, oder eine andere, ort- und zeit-verschieden, oder eine ganz und gar vorgestellte, bestehend aus einem Dutzend Helden und Heldinnen, bezogen aus der Geschichte oder der Dichtung oder aus beiden.
Der zweite Weg: Sich selbst zu beschreiben, als den, der in einer unmittelbaren Beziehung zu einer nichtmenschlichen Wirklichkeit steht. Und diese lässt sich nicht ableiten durch eine ihre Beziehung zum Stamm, zur Nation oder einer imaginierten Gruppe von Gleich-gesinnten. Ich sage nun: Dass Erzählungen der ersten Art die Sehnsucht (desire) nach Solidarität ausdrücken, Erzählungen der zweiten Art die Sehnsucht nach Objektivität. Insofern eine Person Solidarität sucht, fragt sie nicht nach der Praxis der gewählten Gemeinschaft in Bezug auf etwas außerhalb dieser Gemeinschaft.
Insofern sie Objektivität sucht, distanziert sie sich von allen Personen ringsum und denkt über sich nicht als Mitglied einer realen oder vorgestellten Gruppe, sondern als Anhänglichkeit an etwas, das am besten ohne Bezug zu irgendeinem menschlichen Wesen beschrieben werden kann."
Dass sich zwei Parallelen in der Ewigkeit treffen, ist zwar ein schöner Gedanke, widerspricht aber dem Augenschein.
(Berkeley 1983; in: John Rajchmann- Cornel West, Post-Analytical Philosophy, Columbia University Press, 1985 New York 1984, S. 4- Solidarity or Objectivity). (Zu Rorty: Artikel „Rorty“ von T. Eden, in: J. Nida-Rümelin. Philosophie der Gegenwart, Kröner, Stuttgart 1999). Und: Hans-Johann Glock, Wittgenstein Lexikon, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, Art. „Bild“.).
Rorty bekennt sich als Solidarist (und ich mich auch). Dies ist der Versuch, darauf hinzuweisen, dass eine grundsätzlich skeptische Einstellung, quer durch die Philosophiegeschichte, dazu bringen kann, Grenzen unseres Selbst- und Welterkennens anzuerkennen, nicht als Behinderungen, sondern als Ermöglichung unsere Aussagen logisch zu formulieren und verständlich zu machen, ohne vorgestellte „Ganzheiten“ zu bemühen.
Diese Einsichten zu formulieren, dazu ist für mich der Anspruch der Wissenssoziologie äußerst hilfreich und ich hoffe, dass ich die Freude an manchmal unerwarteten Zusammenhängen etwas vermitteln konnte.weiterlesen
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