Der Überschuss der Gerechtigkeit
Perspektiven der Kritik unter Bedingungen modernen Rechts
Produktform: Buch
Die Idee der politischen Gerechtigkeit zielt darauf ab,
die unterschiedlichen Freiheitsbestrebungen, Interessen
und Bedürfnisse zu einem im gleichmäßigen Interesse
aller liegenden Ausgleich zu bringen. Aber was bedeutet
das? Abgesehen davon, dass schon die Formulierung,
wenn sie auch mittlerweile selbstverständlich erscheinen
mag, im Ansatz kontrovers ist, erweist sie sich auch in
der Konkretisierung als umstritten. Die Umstrittenheit
betrifft nicht nur den alltäglichen politischen Streit, die
Kämpfe um Anerkennung innerhalb und außerhalb demokratischer
Rechtssysteme, sondern setzt sich bis in die
Gerechtigkeitstheorien selbst fort. Der Streit geht so weit,
dass man sich die Frage stellen muss, welche sinnvolle
Bedeutung ein derart allgemeiner Gesichtspunkt jenseits
der vielfältigen, von kulturellen und sozialen Prägungen
abhängigen und daher umstrittenen Interpretationen
überhaupt noch haben kann.
Jörn Reinhardts Überlegungen versuchen, die universalistische
Dimension von Gerechtigkeit von einem
Strukturmoment aus zu fassen, das sich in der Veränderung
und der Transformation bestehender Ordnungen
abzeichnet. Der Begriff der Gerechtigkeit gehört zu den
Begriffen, in denen sich gesellschaftlicher Wandel vollzieht,
nicht zuletzt, weil er die Wahrnehmung von Problemlagen
zu bündeln und komplexen Konstellationen
einen scheinbar einfachen Ausdruck zu verleihen vermag.
Obwohl weitgehend unbestimmt, kommt der Idee eine
grundlegende politische Bedeutung zu. Die Transformationen
des Juridisch-Politischen, die Gesetzes- und Verfassungsänderungen
im Bereich des Staatlichen und die
Neuordnungen im zwischenstaatlichen Bereich, werden
mit Rekurs auf die Kategorien des Legitimen und Gerechten
gerechtfertigt. Selbst dort, wo bewusst gegen bestehende
Regelungsregime verstoßen wird, Mechanismen
der Entscheidungsfindung umgangen werden, geschieht
dies zumeist nicht in polemischer Loslösung von diesen
Kategorien, sondern in dem erklärten Willen, ihnen zur
Geltung zu verhelfen, etwa mit der Begründung, dass
die überkommenen und eingefahrenen Institutionen
und Interpretationen eine gerechte Lösung nicht mehr
gewährleisteten.
Die Darstellungsweisen, an die sich dabei anknüpfen
lässt, sind solche, die Gerechtigkeit, Demokratie und
die daran anschließenden Erläuterungen einer alle
gleichmäßig einbeziehenden Ordnung mit dem Motiv
des Sich-Entziehenden und Unrealisierten in Verbindung
bringen. Sie sind Ausdruck des Zweifels, dass sich
überhaupt eine verbindliche Formbestimmung der Gerechtigkeit
gewinnen lässt, von der die nur kontingenten,
zeitbedingten und partikularen Interpretationen unterschieden
werden können. Was bei Darstellungen dieser
Art zumeist klärungsbedürftig bleibt, ist das zugrunde
liegende Strukturmoment. 'Alles fließt', heißt es schon
in dunklen Heraklitischen Fragmenten. Aber lassen sich
die Transformationen der gesellschaftlichen Ordnung
und die Konflikte, die sie begleiten, überhaupt ohne den
Bezug auf allgemeine normative Gesichtspunkte verstehen?
Und wenn nicht: wie erläutert man dann diesen
Bezug?
Eine zentrale These dieser Arbeit ist, dass der Gerechtigkeit
ein normativer 'Überschuss' zukommt. Noch
vor allen näheren inhaltlichen Ausdeutungen und Bestimmungen
ist dieses überschießende Moment für den
Begriff der Gerechtigkeit charakteristisch. Irreduzibel auf
jede bestehende Ordnung erweist sich die Gerechtigkeit
als ein Anknüpfungspunkt der Kritik. Insofern von einem
'überschießenden' Moment zu sprechen liegt deswegen
nahe, weil die Kritik Standards in Anspruch nimmt, die
nicht mit dem etablierten Standard identisch sind. Die
schlechte Wirklichkeit wird von einem Standpunkt kritisiert,
der quasi einen Vorgriff auf eine bessere Wirklichkeit
enthält. Die Wahl eines solchen Ausgangspunktes,
ja schon die Wahl der entsprechenden Metaphern bedarf
angesichts der Ausdifferenziertheit gesellschaftlicher
Ordnungen einer eingehenden Rechtfertigung, scheint
man damit doch an vernunft- oder naturrechtliche
Darstellungsweisen anzuknüpfen, die in vergangenen
Epochen noch plausibel gewesen sein mögen, aber nicht
mehr ohne weiteres anschlussfähig für komplexe Gesellschaften
sind. Daher geht es zunächst um die Frage, inwieweit
sich die Veränderungen und Modifikationen des
Rechts- und Gesellschaftssystems überhaupt unter dem
Gesichtspunkt der Gerechtigkeit beschreiben lassen. Um
sie zu beantworten, bedarf es eines Blicks auf das Recht
moderner Verfassungsordnungen. Diese positivieren elementare
Prinzipien der Gerechtigkeit und setzen voraus,
dass ihnen sowohl bei der Begründung von Normen als
auch bei ihrer Anwendung Rechnung getragen wird. Die
Idee der Gerechtigkeit ist in grundlegenden Verfassungsnormen
interpretiert und im Prozess der Gesetzgebung
und der (verfassungs-)gerichtlichen Rechtsprechung
wirksam. Das Recht inkorporiert damit ein transgressives
Moment. Dies zeigt sich sowohl bei der Anwendung des
Rechts, als auch – und vielleicht am deutlichsten – an der
demokratischen Politik: demokratische Politik vollzieht
sich in verrechtlichten Bahnen und vermag diese doch zugleich
zu verändern. Die Bewegung, die sie dabei zeitigt,
ist keine bahnbrechende Faktizität, sondern Ausdruck
eines normativen Überschusses der Gerechtigkeit.
weiterlesen