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Der Saal der schwarzen Feuer

Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)

1. DAS LEBEN GEFÄHRDET DEN TOD Du musst richtig leben, damit du besser sterben kannst! Immer wieder schossen Godert von Bourtange diese Wörter durch den Kopf. Du musst richtig leben, damit du besser sterben kannst! Was sollte das überhaupt heißen? Sie waren einfach da. Warum, wusste er nicht. Er wusste nicht, woher sie kamen und fand einfach kein passendes Bild dazu, geschweige denn eine Person, eine Stimme oder ein Schriftstück. Sein Knappe legte ihm gerade den Brustpanzer an; er spürte das immense Gewicht, das ihn nach unten zog, das ihn fast in die Knie zwang. Godert versuchte, sich unter größerem Kraftaufwand zu strecken und machte sich mühsam wieder gerade. Die Nackenwirbel knackten und ihm wurde kurzzeitig schwarz vor den Augen. Er taumelte etwas, als seine Söhne soeben den Raum betraten. Bestürzt kamen sie herbeigelaufen. „Vater, was ist los?“, fragte ihn Heinrich, sein jüngster Sohn. Klaus, der ältere, kam hinzu und wollte ihm unter den Arm greifen. Godert ließ es aber nicht zu und hob lächelnd seine Rechte: „Nein, nein. Soweit ist es nicht, noch nicht!“ „Was meinst du?“, fragte Heinrich. „Sagte ich das nicht? Ich war mit meinen Gedanken ganz anderswo unterwegs.“ „Und wo?“, wollte Klaus wissen. Godert dachte einen Moment lang nach und überlegte, ob er ihnen von der Geschichte erzählen wollte. Er entschied sich im letzten Augenblick jedoch dagegen und legte jedem zur Beruhigung seine Hände auf den Kopf. Die Metallhandschuhe lagen schwer auf ihren Köpfen und er spürte, wie sie sich dagegenstemmen mussten. „Nein, meine Söhne. Alles zu seiner Zeit. Jetzt, vor der alles entscheidenden Schlacht, ist es nicht der richtige Zeitpunkt. Verabschiedet euch von eurer Mutter und kommt schnell zurück. Wir wollen doch unsere Feinde nicht unnötig lange warten lassen, oder?“ Sie eilten davon, so gut es ihre Rüstungen zuließen. Sein Knappe Notger war endlich fertig und verbeugte sich: „Mein Herr, hier ist euer Schwert Langdorn. Möge es zahlreich die Köpfe vieler Feinde spalten. Eure Lanze Lichte steht im Innenhof bereit.“ „Ich danke dir, Notger. Du, der keine Eltern mehr besitzt, sollst das hier nehmen. Fang!“ Der Geldbeutel klirrte in den Händen des Jungen, als er ihn auffing. „Mein Herr! Aber ...“ „Nimm ihn jetzt! Das ist für deine treuen Dienste! Warst immer ein guter Junge. Mach dich am besten jetzt schon davon. Es ist gut möglich, dass wir uns nicht mehr wiedersehen werden.“ „Aber sie kommen doch wieder zurück?! Ich ...“ „Ruhe! Verschwinde! Sonst lege ich dir Langdorn an den Hals!“ Die Augen des Knappen strahlten und im nächsten Moment rannen ihm die Tränen über die Wangen. „Aber, aber sie müssen wiederkommen! Wir brauchen sie! Alle! Bitte tun ...“ Godert ging daraufhin einen Schritt auf ihn zu und er wusste selbst nicht, warum, aber er drückte ihn an seinen Brustpanzer und hörte sich Worte sagen, die er selbst nicht ausgesucht zu haben schien: „Mein Junge, sei nicht traurig. Es ist immer das, was es schon immer war. Eine Entscheidung aus dem Verborgenen heraus. Die Entscheidung reift von alleine und hat ein Eigenleben, in das niemand hineinzuschauen vermag.“ Notger schaute zu ihm auf und wollte etwas sagen, als plötzlich Helene, die Frau des Burgherren, im Eingang der Kammer erschien. „Man muss erst richtig leben, damit man besser sterben kann, Notger. Nimm es und suche das Leben, das für dich bestimmt ist.“ Wie versteinert blieb Godert stehen und schaute auf seine Frau. Diese Worte hatte er noch nie aus ihrem Mund gehört. War es Zufall, dass seine Frau die gleichen verwendete? Sie trafen ihn mitten ins Herz und erzielten jetzt eine andere Wirkung. Auf unergründliche Weise gaben sie ihm eine Gelassenheit und eine Ruhe, die er gerade jetzt so dringend gebrauchen konnte Nachdem der Knappe die Kammer verlassen hatte, kam Helene auf ihn zu und reichte ihm seinen Helm mit den Worten: „Es gibt kein Ende, das ist nur eine Erfindung der Menschen, die dumm sind.“ War das seine Frau? Hatte sie das gesagt? Er erkannte sie nicht mehr wieder und schaute sie etwas verwirrt an: „Warum sagst du das? Denkst du etwa das Gleiche wie ich? Ich ...“ Aber da gab sie ihm einen Kuss und seine Stimme versagte. In diesem Moment verstand Godert, dass sie an das Gleiche dachten und es heute kein gewöhnlicher Tag werden würde. Beide nickten sich verständnisvoll zu und gaben sich die Hand, so als wüssten sie, dass sie sich wiedersehen und der Weg beschritten werden müsste. Der Abschied war kurz und sie ließen voneinander ab. Es bedurfte keinerlei Worte mehr und er ging hinaus. In seinem Rücken spürte er ihren Blick, der ihm erwartungsvoll folgte, bis er im Treppenabgang verschwand. Godert glaubte ihre letzten und leise gesprochenen Worte mehr zu spüren als zu hören: „Mache den letzten Schritt. Es wird schnell gehen.“ Jene Worte verfolgten ihn, bis er unten im Innenhof angekommen war. Dort stand sein Pferd, flankiert von den Pferden seiner Söhne. Um sie herum drängte sich ihre Reiterei. Über tausend Reiter waren angetreten. Godert saß auf und sie begrüßten sich. „Sind unsere Truppen bereit? Kann es endlich losgehen? Ich kann es kaum erwarten, dem Wilhelm den Schädel abzuschlagen! Wo ist unser Herold?!“ „Mein Herr, ich bin schon da. Es tut gut, euch so kampfeslustig zu sehen. Wir werden ihre Kampfeskraft dringender brauchen, als in all den vergangenen Schlachten. Jetzt steht es Spitz auf Knopf. Bedenkt, dass er sich mit Friedrich von Lahnstein verbündet hat!“ Godert machte eine abweisende Bewegung: „Ach, Arminius! Diese beiden Hänflinge! Die sind so dünn, die werde ich erst einmal suchen gehen müssen!“ Die Männer lachten. „Vater, du wirst die beiden Herren gut an den zahlreichen Leibgarden erkennen können“, sagte Klaus. „Außerdem werden die Banner dicht bei ihnen stehen“, ergänzte Heinrich. „Das stimmt. Da habt ihr recht, es sei denn sie sind zu feige, sich erkennen zu geben. Herold Arminius! Lass zum Abzug blasen!“, gab er den Befehl und sie machten sich bereit. Die Hörner wurden geblasen und er und seine Söhne ritten zusammen mit dem Herold vorweg als Erste durch das Tor, hinaus in die weite Ebene. Sie ritten auf die Brücke zu, die sie in zwei Kilometer Entfernung über die Lahn bringen sollte. Godert sah eine Krähe, die direkt über ihren Köpfen flog und ihnen den Weg zu weisen schien. Kaum hatten sie die Brücke erreicht, wendete die Krähe und verschwand. Er schaute ihr interessiert nach und glaubte, dass jene Szene ihm bekannt vorkam. Ihn wunderte auch nicht mehr, dass einer seiner Späher zurückkam und mit leichtem Entsetzen erklärte: „Mein Herr, drüben auf der anderen Seite auf freiem Feld befindet sich ein großes Heer. Es hat schon seine Stellung bezogen und erwartet uns!“ „Mist! Und wir sind noch nicht so weit! Beeilung! Folgt uns über die Brücke!“, rief der Herold. Sie überschritten die Brücke und waren nur zu viert und standen nun als eine kleine Vorhut dem Feind gegenüber. Das feindliche Heer stand keine 200 Meter von ihnen entfernt, aufgestellt in drei langen Reihen. Größenteils bestand es aus Fußvolk und war gut bewaffnet. Ihr Heer konnte ihnen nur langsam über die schmale Brücke folgen. „Vater, das dauert zu lange! Das ist eine Falle! Darauf haben die nur gewartet! Bis wir uns komplett aufgestellt haben, werden die uns angreifen!“, rief sein Sohn Klaus. „Wir müssen wieder zurück! Sofort! Sonst machen die uns nieder! Das sind gut 400 Reiter und an Fußvolk sind es mindestens noch drei mal so viele!“, rief Heinrich. Godert hörte ihre Worte kaum, wie aus weiter Ferne drangen sie an sein Ohr. Aber sie flößten ihm keine Angst ein: „Und? Was soll`s? Die können nicht kämpfen! Wir warten, bis 50 der besten Reiter bei uns sind und dann schlagen wir zu! Den beiden, Wilhelm und Friedrich, schlagen wir die Köpfe ab und dann nehmen sie Reißaus wie die Feldhasen! Wartet ab!“ Der Herold setzte das Horn an und gab das Signal. Godert selbst ritt zurück zur Brücke und brüllte aus Leibeskräften: „Männer! Die 50 Besten will ich bei mir haben! Nur die Besten! Wer sind die Besten?!“ Seine Söhne kamen aufgeregt herbei. Klaus rief schon von Weitem: „Vater! Sie kommen!“ „Wieviele?!“, rief er. „300 aus der Reiterei, mindestens!“, gab Heinrich zur Antwort. „Sind die Banner dabei?!“ „Ja!“, rief Klaus. „Gut! Sehr gut! Folgt mir!“ Sie ritten ihnen mit ihren 50 Reitern ein Stück weit entgegen, bis er ihnen den ersten Befehl erteilte: „Werdet langsamer! Drängt euch dicht um mich herum!“ Nach 50 Metern hielten sie schließlich auf dieser weiten Fläche an und Godert erklärte ihnen seinen Plan: „Wir müssen ganz dicht zusammenbleiben, wie ein Hornissenschwarm!“ „Aber dann geben wir doch ein leichtes Ziel für ihre Bogenschützen ab!“, rief Heinrich. „Eben! Sobald wir sehen, dass sie ihre Bögen spannen und auf uns zielen, stieben wir auf mein Zeichen so weit wie möglich auseinander. Das muss sehr schnell geschehen! Nach weiteren 50 Metern halten wir unseren Keil, bestehend aus einer Handvoll Männer, direkt auf die Mitte zu, wo die Banner von Friedrich und Wilhelm von Berg zu sehen sind. Das ist die Zeit, in der sie ihre Bögen mit den Schwertern wechseln müssen. Das ist unsere Chance! Die wollen ihre Chance jetzt nutzen, weil wir so wenige sind. Lasst sie ruhig kommen! Auf Männer!“ Die Reiterei setzte sich in Bewegung und nahm ihn und seine Söhne in die Mitte. Sie hielten direkt auf sie zu. Einer der Männer rief plötzlich: „Sie spannen ihre Bögen und nehmen uns gleich ins Visier!“ „Auf drei will ich hier keinen mehr in der Mitte sehen! Verteilt euch in alle Richtungen!“, rief Godert von Bourtange. Bevor er jedoch den Befehl gab, schaute er auf seine Söhne und rief ihnen zu: „Ihr müsst richtig leben, damit ihr besser sterben könnt! Reitet zur Brücke und rettet euch! Verschwindet! Das ist ein Befehl!“ Godert erteilte danach seinen Befehl für die Reiterei: „ Eins! Zwei! Drei!“ Nach diesen Worten stoben alle Männer weit auseinander und entfernten sich. Godert gab seinem Pferd die Sporen und hielt direkt auf die beiden Banner zu. Hinter sich hörte er nur noch vereinzelte Rufe, die schnell leiser wurden: „Godert ist allein! Wo sind seine Männer?!“, war das Letzte, was er vernahm. Aber er lachte nur laut auf, als er dies hörte und zog mit seiner Rechten Langdorn aus der Scheide. In seiner Linken aber leuchtete seine Lanze Lichte hell im Abendschein der untergehenden Herbstsonne auf. Sein Überraschungsangriff war ihm geglückt. Das blutrote Banner von Friedrich von Lahnstein und das blau-weiße Rautenmuster von Wilhelm von Berg tauchten plötzlich dicht vor ihm auf und er wurde von einer rasenden Wut gepackt. Nur wenige Schritte entfernt sah er seinen ersten Kontrahenten, Friedrich von Lahnstein, stolz auf seinem weißen Pferd sitzen. Da stieß er einen lauten gellenden Schrei aus und hielt direkt darauf zu. Nicht wenige hätten seine Tollkühnheit für einen echten Wahnsinn gehalten, aber er fühlte sich in seiner Leichtigkeit über alle Furcht erhaben. Als er sein Visier herunterschlug, blitzten seine Augen wütend auf und er stieß Lichte mit aller Kraft der Leibgarde, die sich schützend vor ihren Herrn schob, durch dessen Bauch hindurch. „Der Tod ist mit mir!“, schrie Godert laut aus Leibeskräften, dass seine Stimme nicht von dieser Welt schien und seinen Feinden Angst und Furcht einflößte. Und so groß war die Schärfe seiner Lanze, dass sie durch den Körper seines Gegners fuhr, am Rücken wieder austrat und schließlich den überraschten Friedrich mitten in den Unterleib traf und ihn aufspießte. Friedrich schaute mit einem entsetzten Blick aus seinen weit aufgerissenen Augen auf die Lanze und fiel schließlich tot vornüber auf sein Pferd. Das Schwert der zweiten Leibgarde aber erwischte Godert am Oberschenkel und durchbohrte ihn. Ihm entfuhr ein Schmerzensschrei, der aber seine Wut ins Unermessliche steigen ließ. Todesmutig trieb er sein treues Pferd weiter mitten hinein und schrie: „Folgt mir Männer!“ Eine Lanze des Gegners durchbohrte daraufhin den Hals seines Pferdes und ehe er mit ihm darniedersank, sprang Godert Wilhelm von Berg, der dicht neben seinem Bannerträger nur ein paar Meter entfernt stand, entgegen. Dieser riss geistesgegenwärtig sein Schwert hoch, das ihn an der Hüfte traf. Im Fallen riss Godert ihn mit sich, dass sie zu Boden fielen. Unzählige Hände versuchten, Godert zu ergreifen oder stachen mit ihren Messern auf ihn ein. Blut sammelte sich in seinem Mund. Dann bekam er den Kopf von Wilhelm zu fassen und schlug ihm diesen mit einem verzweifelten Hieb ab, ehe ihn ein langer Dolch im Rücken traf und sein Herz durchbohrte. Mit der Kraft seines schwindenden Willens bäumte er sich ein letztes Mal auf, riss triumphierend den abgeschlagenen Kopf des Herzogs, für alle sichtbar, hoch. Für einen kurzen Moment ließen seine erschrockenen Gegner von ihm ab. Doch mit Erstaunen stellte er erst da fest, als er zurückschaute, dass er ganz alleine in die feindlichen Linien hineingebrochen war. Seine Reiterei hatte ihm nicht so schnell folgen können und dann schließlich dem ganzen Treiben in einiger Entfernung staunend und fassungslos zugeschaut. Die Reihen der Feinde kamen wieder an ihn heran und schlossen ihn ein. Er wollte seinen Leuten etwas zurufen, aber ein Schwall Blut und ein Röcheln war das Einzige, was seinen Lippen entwich. Er fiel auf die Knie und das letzte Bild, was er sah, als er zwischen den Beinen seiner Feinde schaute, war das seiner Söhne, die auf ihn zugeritten kamen, ehe er vornüber fiel und sein Schwert unter sich begrub. Er spürte nicht mehr die Tritte der Pferde, die über ihn hinwegritten, und die Messerstiche seiner Feinde, ehe seine eigene Reiterei ihm zu Hilfe eilte. Godert hörte auch nicht mehr das Rufen seiner Söhne, die ihn umdrehten und vergebens nach Lebenszeichen suchten. Du musst richtig leben, damit du besser sterben kannst , waren seine letzten Gedanken, ehe es dunkel um ihn wurde. Der Schlachtlärm ließ langsam nach, seine Augen waren voller Blut. Nur kurze Zeit später sah er das Rot, das bald dem Schwarz wich. Plötzlich hörte der Lärm auf und ihm schwanden alle Sinne. Er kam buchstäblich nur zu sich selbst. Die Schwärze war vollkommen. Sie war zuerst da, dann kam die schwere Stille, die bald unerträglich und eine schwere Last wurde. Godert öffnete seine Augen, um mehr sehen zu können, aber das änderte nichts. Es blieb schwarz. Kein Geräusch drang an seine Ohren und kein Geruch, der ihm eine Orientierung hätte geben können. Er glaubte auf einem harten Boden zu liegen. Der Versuch aufzustehen, misslang kläglich. Wie ein kleines schwächliches Kind versuchte er sich an der kleinsten Bewegung, aber auch das fiel unendlich schwer. Nach einigen weiteren Versuchen gab er schließlich erschöpft auf und blieb leblos liegen. Er horchte in den Raum hinein und versuchte irgendeinen Klang aufzufangen. Schließlich glaubte er, das leise Knistern eines brennenden Holzscheites zu hören. Aber er war sich nicht sicher. Denn er konnte nicht den geringsten Feuerschein, geschweige denn eine Spur von Licht erkennen. Lange Zeit war es das Einzige, das ihm das Gefühl gab, nicht alleine zu sein. Plötzlich erschrak Godert. Er glaubte, leise Schritte zu hören, die sehr vorsichtig durch den Raum schlichen. Einer Katze gleich und doch noch zu laut, um sie überhören zu können. Er versuchte zu rufen, aber ihm versagte die Stimme. Vergeblich versuchte er, jene Richtung herauszufinden, aus der die Geräusche kamen. Stattdessen spürte er einen ganz feinen Luftzug, der ihn an der Wange berührte. Wie der Saum eines langen und feinen Mantels, aus der edelsten Seide gewoben. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte den zarten Duft von Thymian zu erkennen. Abermals versuchte er zu rufen, aber es gelang ihm nicht. Es war, als hätte man ihm den Mund zugenäht. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die gleiche Frage: Wo bin ich?, Godert spürte, dass irgendetwas Entscheidendes fehlte, aber er kam nicht darauf. Schwach glaubte er nach einiger Zeit leichte, aber sehr dunkle Grautöne, zu entdecken. Sie schienen hektisch auf und ab zu tanzen. Er versuchte, darauf zuzukriechen, aber ihm schien jegliches Gefühl für die kleinste Bewegung abhandengekommen zu sein. Jetzt glaubte er die Geräusche eines Feuers und die von leisen Schritten zu vernehmen. Godert war sich fast sicher, unter dem Rücken etwas Ähnliches wie eine Decke zu spüren und versuchte seinen Körper leicht zu bewegen. Doch die bleierne Schwere zeigte ihm seine Hilflosigkeit auf und dann bemächtigte sich seiner ein schrecklicher Gedanke: Sie haben mich gefangen genommen und eingekerkert. Also bin ich doch noch nicht tot und sie werden all ihre Wut an mir auslassen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich meine Leute retten konnten. Und dann war es plötzlich wie ein Griff nach seinem Herz: Was ist mit meiner Frau und meinen Söhnen geschehen? Konnten sie fliehen? Aber plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Verwunderung, das den aufkeimenden Schmerz verdrängte. Godert machte sich schon die ersten Vorwürfe, weil das Gefühl des Schmerzes nicht aufkommen wollte. Er verstand es nicht. Stattdessen wurden die Geräusche um ihn herum lauter und er begann immer mehr die Konturen eines schwachen Feuers zu seinen Füßen zu erkennen. Das leise Schlurfen einzelner Füße kam näher und ging an ihm vorbei. „Er kommt langsam zu sich. Ungewöhnlich früh“, hörte er eine fremde Stimme flüstern. Erschrocken fuhr er zusammen, als er diese Worte hörte und versuchte zu verstehen. Sie mussten der Person gehört haben, die soeben vorübergegangen war, so vermutete er. Godert versuchte etwas zu rufen, aber sein Mund schien ihm immer noch nicht zu gehorchen. Auch fehlte ihm der Atem, weil ihm die Lungen versagten. Er versuchte, seine Lippen mit der Zunge zu benetzen, vergeblich. Angestrengt lauschte er der sehr leise geführten Unterhaltung. „ Ein Herz kann nicht sprechen, wenn es noch nicht lebt“, flüsterte wieder jene Stimme. Godert wusste nicht, was ihm diese Worte sagen sollten. Vielleicht hatten sie auch nichts mit ihm zu tun und er grübelte ganz umsonst. „Komm wir gehen, die Botin ist soeben gekommen. Der Kerl hier ist einfach noch zu früh dran, wenn du mich fragst “, hauchte eine andere Stimme und beide entfernten sich. Ein Herz kann nicht sprechen, wenn es nicht lebt? Was sollte das bedeuten? Immer wieder gingen ihm diese Fragen durch den Kopf. Plötzlich hörte er einen lauten Ruf, der durch den ganzen Saal hallte: „Die Botin ist eingetroffen!“ „Ruhe!“ Fuhr eine unterdrückte Stimme barsch dazwischen. „Erschrecke unseren wertvollen Ankömmling nicht. Er ist noch zu schwach. Seine Kräfte schwinden mehr als sie zunehmen. Schließe die Tür und tritt ein.“ Godert vernahm ein leises Quietschen und dann das Schließen einer Tür. Die Stimmen erstarben fast augenblicklich. Aber er konnte erahnen, aus welcher Richtung sie kamen. Er strengte seinen Willen an und begann mit aller Kraft darauf zuzukriechen. Das Knistern des Feuers wurde lauter; wie die Stimmen, die aus dem Kamin zu kommen schienen, dessen Abzug sich nun jetzt direkt über seinem Kopf befand. Er schaute direkt in das Feuer und dann nach oben in den Rauchabzug. Godert wunderte sich darüber, dass er nicht geblendet wurde. Er kroch immer näher heran, bis er sich mitten in den Flammen befand und zu seinem Erstaunen keine Schmerzen empfand. Die Stimmen waren jetzt wieder klar zu verstehen und er blieb auf dem Rücken liegen. Die schwarzen Flammen umgaben ihn nun von allen Seiten. Auch spürte er keine Wärme, geschweige denn eine Welle der sengenden Hitze. Plötzlich hörte er eine ihm sehr vertraute Stimme: „Wie geht es ihm?“ Helene! Schoss es ihm durch den Kopf und er spürte das erste Mal so etwas wie eine Wärme in sich aufsteigen. Den Namen seiner Frau, hatte er ihn gesagt, oder hatte er ihn nur gedacht? Er wusste es nicht mehr. Tausende Bilder erschienen vor seinem Auge und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Plötzlich hörte er seinen eigenen misstönenden Aufschrei und erschrak. Hatte er ihren Namen gerufen? Die Kraft schwand schlagartig und es wurde wieder dunkel. Dagegen loderten die Flammen plötzlich hell auf. Da wusste Godert, was er die ganze Zeit vermisst hatte. Er spürte sein Herz nicht mehr. Also bin ich tot. Aber nicht allein, dachte er und das tröstete ihn sehr. Er hatte sich an ihren Namen erinnern und ihn sagen können. Das war ihm Leben genug. Genug, um nochmals dafür sterben zu wollen. Aus weiter Entfernung hörte er schwach eilige Schritte näherkommen. Über sich sah er schemenhaft drei Gesichter, die sich über ihn beugten, wie durch einen Schleier oder Nebel. „Wer ist Helene? Wie konnte er es bis hierher in das Feuer schaffen?“, flüsterte eine verwunderte Stimme. Das mittlere Gesicht nickte langsam und schien besorgt zu lächeln: „Er hat heute den mehrfachen Tod erlitten. Aber er darf keinen weiteren Schaden nehmen, sonst geht er uns verloren. Für immer.“ Godert schaute in das Gesicht, zu dem diese bekannte Stimme gehörte und versuchte, etwas Markantes zu erkennen. Ergebnislos. `Helene!`“Schoss es Godert abermals durch den Kopf. Das war ihre Stimme! Jetzt war er sich sicher. Er versuchte, seinen Kopf anzuheben, aber dafür reichten seine Kräfte noch nicht aus. „Wen meinst du mit uns? Uns alle?“, fragte eine dritte Stimme. Aber die zweite Stimme, zweifellos eine weibliche Stimme, blieb darauf eine Antwort schuldig und nickte abermals. „Wir müssen ihn zurückbringen“, sagte die erste Stimme. Daraufhin trugen sie ihn behutsam zurück auf sein Lager und legten ihn dort ab. Die Gestalt, der er den Namen Helene gegeben hatte, beugte sich über ihn und strich ihm über die Augen. Dabei flüsterte sie ganz leise und kaum hörbar: „Du musst richtig leben, damit du besser sterben kannst!“ Mit diesen Worten stieg ein Gefühl der warmen Schwere in ihm auf und er ließ sich herz- und schmerzfrei in den Tod fallen. Er nahm die Schwere an, ließ sich fallen und erkannte die Schwärze nicht mehr als bedrohlich, sondern als ein neues Leben, das er selbst war. Bleischwer wurde der Körper von Godert und jede Sekunde in seinen tiefen Träumen kam ihm wie ein Tag vor. Vieles flog an ihm vorüber, dass er schon längst vergessen glaubte. Und anderes schlich in einem Schneckentempo an ihm vorbei, dass er erst jetzt die Konturen von so vielen gut bekannten Dingen erkannte und sie ihm deshalb wieder verändert und fast schon fremd erschienen. So sah er den alten Eichenbaum, in den er und Helene ihre Namen schon in Jugendtagen geritzt hatten. Aber nun erkannte er auch andere Namen und Sätze, die ihm nie zuvor aufgefallen waren. Ein besonderer Satz blieb ihm im Gedächtnis: Schüttele dem wahren Leben niemals deine Hand, denn die Zeit ist zu kurz, um es richtig kennenzulernen. Das Neue ist niemals bekannt, denn ist tief dein Sturz, kannst du deine Angst nicht verbergen.` Eine Frauenstimme sprach diese Sätze mehrmals aus, bis sie sich im Echo verloren und mit der Zeit sich veränderten und zu neuen wurden. Dein neuer Name ist jetzt Sedwe. Das ist der Name, den du dir mit deinen Taten verdient hast. Ab heute wirst du diesen Namen tragen, bis dir ein neuer gegeben wird. Der letzte wird dein endgültiger sein; wenn du all deine Aufträge erfüllt und dich deiner Bürden entledigt hast.` Gerade war er darüber erfreut, einen leichten Duft von Minze wahrzunehmen, als ihm endlich klar wurde, dass es nun endgültig sein Ende sein musste: Er spürte immer noch nicht sein Herz! Es schlug nicht! Ebenso spürte er seinen Atem nicht. Dass musste nun sein Ende sein! Kaum war dieser Gedanke in ihm gereift, als er leise Stimmen hörte. Sie waren zwar weit weg, aber doch wieder ganz nah. „Sedwe wacht gerade auf“, hörte er eine raue Stimme flüstern. Die Konturen um ihn herum wurden wieder deutlicher. Helle Grautöne mischten sich unter das Schwarz und das dunkle Grau. Vier Gestalten, in lange Gewändern gehüllt, standen um ihn herum und starrten ihn neugierig an. Bewegungslos verharrten sie so eine ganze Zeit lang und er hatte Probleme, die Stimmen den entsprechenden Personen zuzuordnen. „Eigentlich müsste er für uns schon verloren sein. Vielleicht sollten wir es uns doch noch einmal überlegen, ihm diese Aufgaben zu übertragen und ihm stattdessen eine leichtere geben“, gab eine verwaschene Stimme zur Antwort. „Du willst ihn der Vergessenheit überlassen und seinen Namen wieder streichen?“, fragte die Frau, der er den Namen Helene gegeben hatte, mit Entsetzen. „Also bringen wir ihn doch ins Zimmer des Vergessens und überlassen ihn seinem Schicksal?“, flüsterte leise eine heisere Stimme mit einer nicht geringen Faszination im Unterton, die mit Spannung diesem Verlauf des Gespräches zugehört hatte. Godert lauschte dieser Unterhaltung und hatte kein gutes Gefühl nach den letzten Äußerungen. Er spürte, dass es im Moment nicht gut für ihn aussah. Hilfe suchend schaute er in die Runde und hoffte, Helene unter einer der Kapuzen zu erkennen. Eine der Gestalten beugte sich nun nach vorn und hielt etwas Langes hoch. Godert starrte auf den Gegenstand, der wie durch einen Schleier sehr unförmig wirkte. „Ihr wisst, was das bedeutet?“, fragte die raue Stimme. Die Gestalt zu seiner Rechten, die ihm am nächsten stand, senkte den Kopf und nickte. Er hörte aus dieser Richtung Helenes Stimme mit einem leisen Seufzer, der ihre Hoffnungslosigkeit widerspiegelte, kaum hörbar sagen: „Ja, ich bin mir dessen bewusst. Aber eine Entscheidung muss nun getroffen werden.“ „Botin, du weißt, wenn er sich nicht als würdig erweisen wird, dass die Entscheidung unumkehrbar sein wird?“, fragte die heisere Stimme. „Er hat seinen Namen jetzt schon verdient. Das spüre ich. Er hat dem wahren Leben niemals die Hand geschüttelt“, bekräftigte Helene. Godert hörte die letzten Worte, die ihn wieder an seinen Traum erinnerten: Er hat dem wahren Leben niemals die Hand geschüttelt. „Was soll das heißen? Du gabst ihm den Namen Sedwe, nicht wir!“, sagte die heisere Stimme. „Aber es ist ihre Aufgabe als Botin, den Ankömmlingen ihren Namen zu geben. Hast du das vergessen?“, erklärte eine Stimme, die bisher noch nicht zu Wort gekommen war. „Unser Philosoph ist sich also doch noch der Regeln bewusst?“, erwiderte die raue Stimme. „Ich finde, es war zu früh, ihm diesen Namen zu geben. Er hatte noch keine Prüfung erfolgreich bestehen können, weil er zu schwach dafür war. Nun müssen wir sie nachholen und dafür etwas extremer als beabsichtigt“, flüsterte die heisere Stimme wieder sichtlich erregt. Godert spürte, wie sich die beiden Gestalten zu seiner Rechten und seiner Linken flüchtig anschauten. Der Philosoph holte tief Luft und erklärte: „Unsere Botin wird ihre Gründe dafür gehabt haben, ihm diesen Namen so früh zu geben. Lasst das Schicksal entscheiden, ob er der ist, der dessen würdig ist, wenn auch unvorbereitet. Aber große Namen verlangen große und schwere Entscheidungen, wenn große Aufgaben vor ihnen liegen. Auch wenn sein Herz noch nicht schlägt und ihm der Atem fehlt, so muss er diese Prüfung bestehen oder alles verlieren. Richter, walte deines Amtes und finde für uns die Antwort in dieser Hülle, die kraftlos darniederliegt und noch nicht das alte Leben abgeschüttelt hat.“ Der Philosoph zu seiner Linken trat einen Schritt zurück, wie auch Helene zu seiner Rechten und eine der beiden Gestalten, die zu seinen Füßen standen. Die letzte verbliebene hielt immer noch den langen Gegenstand hoch in die Luft und begann leicht zu zittern. Godert strengte seine Augen an und in dem Moment, als Helene zur Seite trat, fiel ein feiner Lichtstrahl darauf und er glaubte ein flüchtiges Blitzen zu erkennen. Ein Dolch! , schoss es ihm durch den Kopf und ihm entfuhr ein Schrei des Entsetzens, der aber augenblicklich in sich zusammenfiel und von dem nur ein leises kümmerliches Klagen überblieb. Godert spürte wie sich alle Blicke auf ihn richteten. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Er hat dem wahren Leben niemals die Hand geschüttelt? Aber dem Tod! Das hat er! Und er würde es wieder und immer wieder tun! Mit diesen Gedanken setzte plötzlich sein Herzschlag wieder ein und mit all seiner Kraft, die er aufbringen konnte, schrie er aus Leibeskräften. Seine blassen Hände griffen nach dem Dolch, der jetzt hell aufschimmerte, als wollte er ihm den Weg in den Tod weisen. Sein Blick wurde ein Stück klarer und der Nebel um ihn herum wich zurück. Er spürte den Schmerz, den die Klinge verursachte, als sie seine Hände durchbohrten, die er zu einem schützenden Dach geformt hatte. Er war so erfreut darüber, dass er laut seinen Namen rief: „Sedwe hat seinen Namen verdient! Jetzt und für immer!“ Mit diesen Worten entriss er der Gestalt die Klinge und warf sie zu Boden. Danach wurde es wieder dunkel um ihn und er fiel in einen tiefen aber lebhaften Schlaf. Viele Dinge, die er schon längst vergessen glaubte, traten wieder ins Licht und das Leben kehrte langsam, sehr langsam wieder zurück. Viele Wunden schlossen und öffneten sich. Er sah Bilder und hörte Melodien, die ihm fremd erschienen und die er nicht verstand. Altes und Neues vermischte sich und es entstanden neue Farben, die zugleich Licht und Schatten waren. Zum Schluss des langen Traumes vereinigten sie sich zu einer einzigen Farbe und sie wurde von nur einem einzelnen langen, nicht enden wollenden Ton begleitet, bis sie zusammen in einer endlosen Weite verschwanden. Godert begann langsam zu verstehen, wo er war. Er war dabei dem Tod in ein neues Leben zu folgen und überschritt nun die Brücke, die kein Ende nehmen wollte, bis er merkte, dass er auf der Stelle ging. Mit einem hoffnungslosen Blick schaute er sich um und sah eine Gestalt, die sich an den Brückenpfeiler lehnte und ihn kritisch von oben bis unten musterte: „Was ist mit dem Wegezoll? Ich nehme Taler, Groschen, Drachmen, Gulden, egal, Hauptsache was Rundes.“ Godert stand nackt vor ihm und sagte: „Ich hab nichts.“ „Dann kannst du nicht durch, oder hast du was Wertvolles bei dir?“ „Was soll das sein?“ „Na, deine Seele.“ „Die habe ich noch nicht.“ „Schade. Hast du was anderes? Irgendwas wirst du doch haben, sonst wärst du doch nicht hier?!“ „Du kannst meinen Namen haben“, sagte er völlig unbedacht. Zu seiner Überraschung klatschte der Fremde in die Hände. „Das ist gut, sehr gut. Gib ihn mir!“ Er streckte die Hand aus und verlangte nach dem Wegezoll. Sedwe schlug ein: „Nimm ihn. Mein Name war Godert von ...“ „Oh, Godert von Bourtange etwa? Was für ein großer Fisch!“ Im nächsten Moment schaute er wieder grimmig und sagte barsch: „So, und nun verschwinde wieder von meiner Brücke!“ Sedwe fühlte eine schwere Last von sich genommen und kam zum Ende der Brücke. Nachdem er neuen Boden betrat, fiel die Brücke in einem großen Lärm hinter ihm zusammen. Als er sich umschaute, fand er sie doch wieder vollständig vor, als sei nichts passiert.weiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-00-077264-1 / 978-3000772641 / 9783000772641

Verlag: Christoph Nellessen

Erscheinungsdatum: 01.12.2023

Seiten: 210

Auflage: 1

Zielgruppe: Fantasy- Liebhaber, Romanliebhaber,

Autor(en): Christoph Nellessen

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