Der Veda und die Bestimmung des Menschen
Produktform: Buch / Geheftet
Der vorliegende Text wurde vor über dreißig Jahren (1961) verfaßt, jedoch bislang nicht veröffentlicht. Er war Teil eines Buches "Sri Aurobindo oder die Transformation der Welt", das Satprem noch vor seinem Titel "Das Abenteuer des Bewußtseins" schrieb.
Die ersten Seiten dieses Buches beschäftigten sich mit dem Veda und sprechen ein Thema an, das bereits damals für Satprem von zentralem Interesse war: der Veda als Schlüssel zur Bestimmung des Menschen.
"Nicht für mich selbst führe ich meinen Yoga durch, denn ich benötige nichts, weder Erlösung noch sonst etwas, sondern eben für das Erdbewußtsein, um ihm einen Weg für den Wandel zu bereiten." - Sri Aurobindo
Was Sri Aurobindo zu verwirklichen kam, hatten andere Dichter, die vedischen Rishis, schon vor Tausenden von Jahren, in vorgeschichtlicher Zeit verkündet:
"Webt ein unantastbares Werk,
werdet zum Menschenwesen,
erschafft die göttliche Rasse.
Seher der Wahrheit seid ihr,
schärft die leuchtenden Speere, um
den Weg zum Unsterblichen zu schlagen.
Kenner der verborgenen Ebenen,
gestaltet die Stufen, auf denen
die Götter Unsterblichkeit fanden." (Rig-Veda X.53)
Seit Adam scheinen wir uns dafür entschieden zu haben, von den Früchten des Baumes der Erkenntnis zu essen, aber auf diesem Pfad sind Halbherzigkeit oder Bedauern nicht angesagt, denn wenn wir in falscher Demut die Nase in den Sand stecken, werden die Titanen oder Dschinns unter uns bereitstehen, um sich die Macht, die wir nicht wollten, anzueignen (was sie auch wirklich tun), und sie werden den Gott in uns zermalmen. Es stellt sich die Frage, ob wir diese Erde den Kräften der Finsternis überlassen wollen, um einmal mehr in unsere diversen Himmel zu entfliehen, ober ob wir die Kraft erwerben wollen - und sie zunächsteinmal finden -, um diese Erde nach einem göttlichen Ebenbild zu gestalten und, mit den Worten der Rishis, "Himmel und Erde gleich und eins zu machen".
Es gibt ein Geheimnis, das ist offenkundig. Alle Traditionen bezeugen es, die Rishis ebenso wie die Weisen Persiens, die Priester von Chaldäa, Memphis oder Yukatan, die Hierophanten von Eleusis oder selbst unsere Kelten. Wir haben es vergessen. Wir haben das Wort verloren.
"Ich sah das Gesetz,
Die Wahrheit, die Weite,
Von wo wir herkamen und welches wir sind;
Ich hörte die vergangenen Zeitalter
Ihre Geschichte murmeln,
und ich kannte das Wort."
Ein Zeitalter der Wahrheit, das Satya Yuga der Inder, oder vielmehr ein Zeitalter der Intuition, ging der Geschichte unserer mentalen Menschheit voraus. Nach den Überbleibseln unserer Traditionen zu urteilen, erfuhr unser Kindheitsstadium in der Welt eine Erleuchtung wie bisweilen unsere kurze menschliche Kindheit, bevor der Verstand unsere Träume zertrampelt, oder wie der Wahrheitssucher, wenn zu Beginn seiner Suche in einem Aufleuchten der Schleier blitzartig für einen Augenblick gelüftet wird, als sollte ihm mitgeteilt werden: "Schau hier, wohin der Weg dich führt." Dann verschließen sich wieder alle Tore, und wir bleiben dem langsamen Trott der Jahre oder Jahrhunderte überlassen, um dann nach langer Zeit eines Tages die Wahrheit des Kindes wiederzuentdecken. Wir haben den langen Weg des menschlichen Verstandes durchlaufen; die Zeit ist gekommen, um das Wort wiederzufinden: "Im Augenblick macht die Menschheit eine Krisis ihrer Evolution durch, in der sich eine Entscheidung über ihr Schicksal verbirgt. Denn sie hat eine Stufe erreicht, auf der das menschliche Mental in gewissen Richtungen eine enorme Entwicklung vollzogen hat. In anderen bleibt sie verwirrt stehen und kann ihren Weg nicht mehr finden. So hat der Mensch ein System der Zivilisation errichtet, das zu groß geworden ist, als daß er es mit seinem beschränkten mentalen Vermögen und Verständnis und seinen noch mehr begrenzten spirituellen und moralischen Fähigkeiten verwenden und handhaben könnte. Die Bürde aber, die damit der Menschheit auferlegt wird, ist für die gegenwärtige dürftige menschliche Persönlichkeit zu groß. Sie verwendet diesen neuen Apparat und diese Organisation zum Dienst am alten unter-spirituellen und unter-rationalen Lebens-Ich der Menschheit. Selbst wenn sich herausstellt, daß dies nur eine vorübergehende Phase oder Erscheinung ist, eine erträgliche strukturelle Anpassung gefunden werden könnte, die es dem Menschen erlaubt, auf seinem ungewissen Weg durch weniger schwere Katastrophen weiterzugehen, so kann es doch nur eine Atempause sein. Denn das Problem ist fundamental. Wenn die evolutionäre Natur das Problem im Menschen sich vergegenwärtigt, konfrontiert sie sich mit einer kritischen Entscheidung, die eines Tages dem wahren Sinn der Evolution entsprechend getroffen werden muß, wenn die Menschheit zum Ziel kommen oder auch nur überleben will."
Und Sri Aurobindo wiederholt: "Die Entwicklung des Mentals in seiner Einwirkung auf das Leben hat eine Organisation mentaler Aktivität und Verwendung der Materie in einem Ausmaß entfaltet, wie sie ohne innere Umwandlung mit den Fähigkeiten des Menschen nicht länger durchgehalten werden kann."
Sri Aurobindo fand den Schlüssel, der uns helfen kann, den notwendigen Wandel - einen Wandel des Bewußtseins - zu vollziehen, und gleichzeitig fand er auch den Schlüssel vieler Traditionen wieder, insbesondere, wie wir noch sehen werden, "Das Geheimnis des Veda", weil es letztlich nur ein Geheimnis gibt. Das Licht, das er auf unsere Vergangenheit wirft, wird uns helfen, unsere gegenwärtige Position in der menschlichen Entwicklung und deren künftige Möglichkeiten besser einzuschätzen. Aber täuschen wir uns nicht, es wäre ein großer Irrtum zu glauben, Sri Aurobindo sei gekommen, um alte Traditionen wieder aufleben zu lassen - "wir gehören nicht den Morgendämmerungen der Vergangenheit an, sondern den Mittagen der Zukunft" -, noch daß sein Werk an den Veda gebunden sei, denn weder sein Leben noch sein Werk wären im geringsten anders verlaufen, hätte er nie Sanskrit gekannt. Seine Entdeckungen vergangener Zeitalter sind die Folge einer zentralen Entdeckung, die in die Vergangenheit ebenso wie in die Zukunft weist und unsere ganze Geschichte wie eine sich entfaltende Zukunft erscheinen läßt, oder vielmehr wie das immense Laubwerk eines Riesenbaumes, dessen Wurzeln weder unter ihm noch hinter ihm liegen, sondern über ihm, in einer ewigen Gegenwart, wie die vedischen Rishis es in ihrer Schau sahen.
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