Deutschland, Deutschland über alles
Die beste Kritik zur Lage der Nation - neu herausgegeben von Timo Rieg
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
„Deutschland, Deutschland über alles“ gehört zu den meistgelesenen politischen Büchern. Kurt Tucholskys Bestseller von 1929, ein pointierter Blick auf Nation und Gesellschaft, wurde 2006 von dem Journalisten Timo Rieg erstmals neu editiert. Nun erscheint eine erweiterte und erneut aktualisierte Fassung, die den politischen Tucholsky zeigt.
Das Original von 1929 versammelt Essays von Kurt Tucholsky, die sich mit Politik und Gesellschaft, Leben und Befindlichkeit des damaligen Deutschlands befassen. Entstanden sind diese Essays im künstlerischen Zusammenspiel mit Fotomontagen John Heartfields. Somit war „Deutschland, Deutschland über alles“ zweierlei: ein modernes Buch, da es erstmals die Wirkung von Bildern einbezog, und ein zeitloses Werk, da viele Beobachtungen Tucholskys weit über den Horizont seiner Zeit hinaus reichen.
Diesem Ansatz ist die vorliegende Neufassung verpflichtet. So war bewusst keine möglichst getreue Rekonstruktion des Originals beabsichtigt. Vielmehr wurden nur die Texte ausgewählt, die auch in unserer Zeit noch oder wieder zum Leser sprechen. Sie sind ergänzt um weitere Essays und Kommentare, die Tucholsky an anderer Stelle veröffentlichte. Somit macht diese Neufassung den politischen Publizisten Kurt Tucholsky und seine Kritik in der Gegenwart hörbar.
In gleicher Absicht wurden einige wenige Bilder des Originals um eine kleine, treffende Auswahl aktueller Fotos und Dokumente ergänzt: der ursprüngliche Ansatz, Bild und Text zu verknüpfen, wird somit in seiner Wirkung deutlich – aber ein regelrechtes Bilderbuch zur Nation, wie es das Original sein wollte, wirkte im Zeitalter des Fernsehens komisch. Im Ganzen also präsentiert die Neufassung von „Deutschland, Deutschland über alles“: einen Kurt Tucholsky für die Berliner Republik, frisch illustriert.
Inhaltlich ist die Neufassung gegliedert nach wichtigen Anliegen Kurt Tucholskys: vor allem das Land und seine Herrscher, Militär und Justiz.
Bevormundung des Bürgers, Regelungswahn, Eitelkeit der Herrschenden sind immer wiederkehrende Themen Kurt Tucholskys. Eine Auswahl seiner Kommentierungen hierzu findet sich in den beiden Kapiteln „Das Land“ und „Die Herrscher“; vielleicht besonders eindrücklich wird das im neu aufgenommenen Essay „Die Beamtenpest“. Die deutschen Untugenden verfolgt Tucholsky bis in den Alltag; so schreibt er über den „Verkehr“ in Deutschland: „Es ist organisierte Rüpelei. (.) Das kommt daher, dass die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zu Ende organisieren. Das kann man eben nicht.“
Besonders quälte Kurt Tucholsky das Auftreten von Militär und Justiz in Deutschland – nach einem Krieg mit Millionen Toten, vor einem sich ankündigenden Unrechtsregime. Im Kapitel „Die Justiz“ wird Tucholskys Unbehagen deutlich, das auch in einer gefestigten Republik heute diskussionswürdig ist: Tucholsky fragt nach den Zielen des Strafrechts, forderte Öffentlichkeit auch der Vor-Verfahren (z.B. zur Anordnung von Untersuchungshaft), bemängelt die Selbstselektion einer „Richterkaste“ und wirbt für eine bessere journalistische Kontrolle der Justiz.
Auch die Anfragen des pazifistischen Weltkriegs-Veteranen Tucholsky an das Militär sind heute noch von Brisanz. Mit seinem berühmten Ausspruch „Soldaten sind Mörder“ befasste sich nicht nur die Weimarer Justiz, sondern regelmäßig auch das Bundesverfassungsgericht. In der Neufassung sind Auszüge der letzten Karlsruher Gerichtsentscheidung ebenso veröffentlicht wie ein Foto, das die Störung eine Bundeswehr-Gelöbnis-Feier durch einen Demonstranten mit der Parole „Tucholsky hat recht“ zeigt.
Einige der persönlichsten Texte Kurt Tucholskys sind in den Abschnitten „Deutsche Freiheit“ und „Die Menschen“ versammelt; sie zeigen die Spannung in Tucholskys Werk: so in seinem fast schon beschwörenden Gedicht „An das Publikum“, das ihn nicht verstehen wollte; so in der bitter-komischen Satire „Der Mensch“, die als Schüleraufsatz daher kommt; so in der beeindruckenden Liebeserklärung an die „Heimat". Die Beiträge zeigen viel von Kurt Tucholsky, so wie er es in seinem wohl bekanntesten Essay „Was darf die Satire“ selbst formulierte: „Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.“ Doch nicht nur Appelle an Freiheit und Menschlichkeit finden sich in den Texten dieser Kapitel, sondern auch Tucholskys feinfühlig-scharfsinnige Sicht auf das Zukünftige, an der er zunehmend verzweifelte: „Blick in ferne Zukunft“ etwa beschreibt schon 1930 die Überwindung des Nationalsozialismus und eine später möglicherweise folgende neue, gefährliche Ideologie. Auch ein Briefausschnitt an Walter Hasenclever über Adolf Hitler zeigt, was man 1933 sehen konnte, wenn man wollte:
„Die Stimme ist nicht gar so unsympathisch wie man denken sollte - sie riecht nur etwas nach Hosenboden, nach Mann, unappetitlich, aber sonst geht's. Manchmal überbrüllt er sich, dann kotzt er. Aber sonst: nichts, nichts, nichts. Keine Spannung, keine Höhepunkte, er packte mich nicht, ich bin doch schließlich viel zu sehr Artist, um nicht noch selbst in solchem Burschen das Künstlerische zu bewundern, wenn es da wäre. Nichts. Kein Humor, keine Wärme, kein Feuer, - nichts. Er sagt auch nichts als die dümmsten Banalitäten.“
Herausgeber Timo Rieg hat nicht nur besonders starke Texte ausgewählt, die auch ohne Vorwissen für Tucholsky begeistern können, er hat Brücken in die Gegenwart geschlagen, zum Teil mit Zwischenstützen: So wird Tucholskys frühe und richtige Kritik durch den Abdruck eines Flugblatts der „Weißen Rose“ von 1943, acht Jahre nach seinem Tod, beklemmend untermauert. Tucholskys Satz „Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne“ aktualisiert Rieg mit einem Ausschnitt aus der BILD-Zeitung mit der Überschrift: „Warum hat Angela Merkel noch keine Fahne im Büro?“ Timo Rieg, unter anderem Chefredakteur einer Satire-Zeitung, ermöglicht so neue Zugänge zu Tucholsky, ohne selbst in den Vordergrund zu treten.
Als „Deutschland, Deutschland über alles“ 1929 erschien, war seine Wirkung zunächst enorm: über 12.000 verkaufte Exemplare in den ersten zehn Tagen, zahlreiche Besprechungen im In- und Ausland („Die Presse lobt – die Presse tobt“). „Deutschlands genialsten Journalisten“ nannte ihn die Kopenhagener Tageszeitung „Nationaltitende“. Doch die weitere Wirkung blieb aus. Die Mehrzahl der Deutschen ging weiter auf dem Weg ins Verderben. Das „Börsenblatt des Deutschen Buchhandels“ lehnte Anzeigenwerbung für den Titel ab, vier Jahre später wurden Tucholskys Werke in Deutschland öffentlich verbrannt.
Kurt Tucholsky, geboren 1890 in Berlin als Sohn jüdischer Eltern, gehörte zu den meistgelesenen Publizisten der Weimarer Republik. Bekannt wurde er schon vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Roman „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ (1912). In den 1920er Jahren schrieb er unter verschiedenen Pseudonymen Essays für bekannte Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere die „Weltbühne“; neben „Deutschland, Deutschland über alles“ wurde auch seine Sommergeschichte „Schloß Gripsholm“ (1931) ein großer Publikumserfolg.
Kurt Tucholsky lebte während der 1920er Jahre in Paris und Berlin. Er verzweifelte allerdings zunehmend an der politischen Lage in Deutschland und war den Nationalsozialisten einer der verhasstesten Autoren, der sich auf der ersten Ausbürgerungsliste fand. Seit Beginn der 1930er-Jahre lebte Tucholsky in der Schweiz und in Schweden, seine letzten Artikel schrieb er 1932. Er litt zudem an einer schweren Atemwegserkrankung. Kurt Tucholsky starb 45-jährig am 21. Dezember 1935 im schwedischen Göteborg an einer Überdosis Tabletten.
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