Die Auserwählte.
Das Leben der Edith Stein
Produktform: E-Buch Text Elektronisches Buch in proprietärem
"Edith Stein (1891–1942) wird als jüngste Tochter in eine sehr konservative jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren. Als ausgewiesene Kennerin der jüdischen Kultur und Geschichte berichtet die Autorin Domaš von Edith Steins frühen Zweifeln an der Existenz Gottes. Eine Engelserscheinung bringt sie zwar auf den Weg des Glaubens zurück, allerdings nicht des jüdischen, sondern des christlichen Glaubens. Später beschließt sie, den Karmeliterinnen beizutreten und lässt sich als Teresia Benedicta vom Kreuz katholisch taufen. Die unausweichliche Auseinandersetzung zwischen Edith und ihrer streng jüdischen Mutter stellt einen vorläufigen Höhepunkt des Buches dar und steht in der Tradition des platonischen Dialogs. Das Leben im Kloster kann Edith Stein jedoch letztlich nicht vor den Massendeportationen der Nazis schützen. Sie und ihre Schwester Rosa werden 1942 aus den Niederlanden nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Die geschilderte Deportation wirft wiederum philosophisch-existentielle Fragen auf, die – auch angesichts der unvorstellbaren Unmenschlichkeiten des Vernichtungslagers – letzten Endes nicht beantwortbar sind.
LESEPROBE aus ""Die Auserwählte""
1. Versöhnung als Schicksal, aber Vergebung …
Was, wenn der Arzt nicht rechtzeitig kommt?
Die Mutter stieß einen lauten Schrei aus, der alle Anwesenden im Raum zusammenzucken ließ. Die Jom Kippur Kerze fiel ihr aus der Hand, rollte unter den Tisch und erlosch.
Bei der nächsten Kerze schrie Auguste wieder auf, ließ sie jedoch nicht aus der Hand. Nur ihre Fingernägel wurden vom krampfhaften Festhalten weiß.
Siegfried Stein war starr vor Schreck, so wie die anderen Familienmitglieder, die sich im Zimmer befanden und sagte laut: „Dieses Kind kommt an Jom Kippur zur Welt, dem Festtag der Versöhnung“, für sich dachte er aber: „Welches Schicksal erwartet es wohl?“ Er erschrak vor der weggerollten und erloschenen Kerze, Ungewöhnliches ahnend und fand keine Antwort auf die Frage, welche Kerze erloschen war, die für die Lebenden oder die für die Toten.
Die zwei älteren Söhne fassten sich als erste und legten die Mutter sanft auf die Chaiselongue, doch diese Liege war für die Tagesruhe gedacht und zu schmal für den Körper ihrer Mutter Auguste, die jeden Augenblick ein Kind gebären sollte. Sie ragte zur Hälfte über das Bett und drohte bei der nächsten großen Wehe und einem Schrei auf den Boden zu fallen. Siegfried, ihr fürsorglicher und liebevoller Ehemann, kam endlich zu sich, eilte zu Auguste und rief: „Jemand soll sofort den Arzt holen! Kinder, raus aus dem Zimmer!“
Es war Oktober, etwas wärmer als sonst zu dieser Jahreszeit in Breslau, und für einige Sekunden überkam ihn der Gedanke: „Was, wenn der Arzt nicht rechtzeitig kommt?“ Er nahm von ihm Besitz und Else, seine Tochter, bemerkte seine zitternden Hände, als er das Fenster wegen des starken Windes schloss. Einige trockene Blätter schwebten fast unwirklich wie Engelsflügel durch das Zimmer und fielen leicht auf den Tisch, auf dem aufgeschlagen das Gebetbuch lag. Siegfried legte es behutsam weg, glättete die Seiten des Gebetbuches und markierte die Seite mit einem schmalen Seidenband. Draußen krächzte eine Krähe auf. Ihn schauderte.
Sein Blick fiel für einen kurzen Moment auf sein weißes festliches Hemd, das er vor dem Gebet in der Synagoge hätte anziehen müssen und er erinnerte sich, dass er seine zahlreichen Kinder hätte segnen müssen, bevor er das Haus verließ, damit der Allmächtige ihnen Liebe im Herzen für die heilige Thora einpflanzte. Er würde ihnen wünschen, dass der Heilige, gesegnet sei, er sie mit Weisheit, Gesundheit und Wohlstand beschenke. Diese wunderbare Stunde der Segnung konnte und durfte Siegfried nicht versäumen. Und er würde sie voller Liebe ansehen und darauf achten, dass alle etwas Weißes trugen und so auf dem Weg der Unschuld gehen und den Engeln folgen konnten.
Da wurde die Zimmertür vorsichtig geöffnet. Eine Verwandte brachte Auguste ein Glas Wasser und ein kaltes, nasses Handtuch. Vor dem Zimmer, in dem sie lag, waren gedämpfte Stimmen und eilige Schritte zu hören und außerdem ein recht lautes Flüstern der Frauen der Familien Stein und Courant, die wussten, was in solchen Situationen zu tun war. Der Arzt war bereits auf dem Weg und Siegfried beschloss, dass es jetzt am besten war, wenn auch er das Zimmer verließ, in dem Auguste sich vor Schmerzen wand. Genau im richtigen Moment, denn an der Haustür klingelte es, und mit großer Erleichterung sah er durch das matte Glas die Umrisse des Arztes, der seine große Familie häufig besuchte. Während die Frauen dem sehnsüchtig erwarteten Gast den Mantel und schwarzen, breitkrempigen Hut abnahmen, bat Siegfried, die Panik in seiner Stimme unterdrückend: „Bitte, beeilen Sie sich!“ Denn trotz all der vielen Kinder im Haus fühlte er sich in solchen Situationen hilflos.
Doch die Gedanken an das Kind, das gerade geboren wurde, warfen immer neue Fragen auf, auf die er, Siegfried Stein, angesehener Holzhändler, der sich trotz seiner aufreibenden Arbeit nicht von der Thora und dem Talmud trennte und seinen Kindern von klein auf die Vorschriften des jüdischen Glaubens lehrte, keine Antwort wusste. Und als er zum Zimmer blickte, in dem Auguste lag, spürte er plötzlich einen Lufthauch auf seinem Gesicht, als wäre etwas an ihm vorbeigeflogen, wie ein Vogel, der plötzlich dicht über ihm vorbeiflog, wenn er still im Garten umherging. Doch hier waren weder Bäume noch ein Garten und er fragte sich: „Ist das nicht Ruach HaKodesh, der Heilige Geist?“ Er spürte eine Schwäche in den Beinen und setzte sich im Salon an den Tisch. Während ihn seine Familie erstaunt ansah, hielt er sein Gesicht in den Händen vergraben und fühlte, dass dieser Jom Kippur nicht wie die anderen war. Seine Seele und sein Körper zitterten, die Haare sträubten sich. Etwas, das er nicht beschreiben konnte, gab ihm ein Gefühl von Verlorenheit, ganz so, als hätte jemand anderes die Kontrolle über das Haus und die Familie übernommen. In diesem Augenblick fuhren alle durch das Schreien und die Rebellion des gerade geborenen Kindes zusammen, jemand öffnete die Tür des Zimmers, in dem Auguste lag, und sagte: „ein Mädchen“ und schloss sie wieder. Siegfried lächelte und spürte erleichtert, dass die Anspannung nachließ. Bald würde ein langes Fasten von fünfundzwanzig Stunden ohne Wasser und Essen beginnen, er hatte ein starkes Bedürfnis zu beten und konnte kaum den Moment erwarten, in dem er sagen würde: „Herr, befreie mich vom Opfer auf meinem Rücken.“ Und er fühlte stärker als sonst die Nähe des Ewigen und die Liebe zu Ihm, seiner Familie, zu allen Juden auf der Welt, die zu diesem Zeitpunkt in ihren Gemeinden und Synagogen zum Jom Kippur zusammenkamen, diesem heiligsten Feiertag. Dem neugeborenen Kind gab er einen zarten Kuss und wünschte dem winzigen Mädchen, dem er über das Köpfchen strich, noch warm vom Körper, aus dem es gekommen ist, den Weg des Lichts und die Kraft, allen Versuchungen dieser Welt zu widerstehen und flüsterte ihr zu: „Tue Barmherziges, denn so wird dein Schicksal in deinen Händen liegen.“ Und eine Träne rann auf Augustes Hand, die ihn tröstete: „Mach dir keine Sorgen, alles wird gut werden.“
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