Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit
Prozessualität als Argumentationsstrategie
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Über kaum ein Thema ist in der Philosophie und den Wissenschaften so viel nachgedacht und geschrieben worden wie über das Thema 'Wirklichkeit' und damit zusammenhängende Fragen nach Wahrheit, Wissen, Erkenntnis, Sprache usw. Aber alles Nachdenken und Schreiben hat nicht dazu geführt, dass man sich auf eine Antwort geeinigt hat. Das hat die Philosophen in Arbeit und Brot gehalten, hat aber beim staunenden Publikum den Eindruck erweckt: So viele Köpfe so viele Meinungen,
was soll’s? – Wozu also noch eine weitere Meinung zum Thema?
In diesem Buch geht es nicht um eine philosophie-historische Aufarbeitung der Wirklichkeitsproblematik, sondern um eine kritische Untersuchung von thematisch einschlägigen Argumenten im Rahmen dieser Problematik
in verschiedenen Strömungen der Philosophie und in wissenschaftlichen Disziplinen. Damit ist zugleich – und von vornherein – der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass plausible Argumente in der Wirklichkeitsdebatte weder von der Philosophie allein noch von einer Einzeldisziplin
allein zu erwarten sind. Zugleich ist dieser Streifzug durch die Theorienlandschaft aber auch von der Hoffnung motiviert, Anregungen zu bekommen, um der Wirklichkeitsdebatte eine Wendung zu geben. Ziel ist dabei nicht der Entwurf einer neuen Theorie oder die Widerlegung gängiger Theorien (Realismus, Empirismus usw.), sondern die Erprobung einer Argumentationsstrategie,
die sich primär für Prozesse interessiert.
Vom Verlauf der Philosophiegeschichte kann man lernen, dass das Interessante an einer philosophischen Position nicht das ist, was sie an/als Wahrheiten behauptet, sondern
das, womit sie die nachfolgende Diskussion belastet bzw. das, wovon sie die Diskussion entlastet – im besten Fall ohne Problemverschleierung.
Ich bemühe mich in diesem Buch darum, mich/uns (?) von der in traditioneller philosophischer Weise diskutierten
Wirklichkeitsproblematik zu entlasten. Ich plädiere also nicht, wie etwa R. Rorty, für eine Abschaffung der Erkenntnistheorie oder der Philosophie überhaupt, sondern
ich versuche, Erkenntnisprozesse so zu beschreiben,
dass sie nicht mehr unter die bisherigen erkenntnistheoretischen
Beschreibungen fallen, die alle nicht zum angestrebten Ziel geführt haben.
Dieses Buch besteht aus Exkursen zu einem nicht mehr für möglich gehaltenen homogenen Haupttext. Ich jammere nicht über die Ubiquität von Kontingenz, sondern ich vollziehe Kontingenz. Ich wiederhole nicht zum x-ten Male, dass wir keine endgültige Wahrheit und keine objektiv gültige Wirklichkeitserkenntnis erreichen
können. Vielmehr vertrete ich in diesem Buch die Überzeugung: Weil wir alle Fragen stellen, müssen wir auch mit unseren Antworten zufrieden sein – andere Antworten würden wir ohnehin kaum verstehen. Und in dieser Situation ist mit einer großen Zahl von Fragen und Antworten, also mit erheblicher argumentativer Konkurrenz zu rechnen.
Dieses Buch versagt sich daher der Melancholie alles Fertigen oder Endgültigen. Vielmehr gilt auch hier die Einschätzung der eigenen Überlegungen als vorläufig endgültig vorläufig.
Im Laufe der Geschichte scheint die wechselvolle Karriere
der Wirklichkeitsdiskussion eng verbunden zu sein mit der Medienentwicklung innerhalb der Gesellschaft. So konstatiert etwa W. Welsch: 'Erstens wurde ›Wirklichkeit‹
in der heutigen Kultur durch Entwicklungen der elektronischen Medien problematisch. Die Wirklichkeit
scheint schwächlich geworden – eigentümlich blass, unübersichtlich und anscheinend immer weniger bedeutungsvoll und greifbar. Stattdessen sind ›Simula-tion‹ und ›Virtualität‹ zu den neuen und kräftigen Matadoren
der Gegenwart avanciert. (…) Zugleich aber ist zu beobachten, dass im Gegenzug gegen die elektronische Mediatisierung der Welt kulturell ein neues Bedürfnis nach Wirklichkeit – sozusagen nach ›wirklicher Wirklichkeit‹
– entsteht. (…) Es gibt ein neues Bedürfnis nach Wirklichkeiten in einem elektronisch unsubstituierbaren Sinn.' (Welsch 1998:169)
Offenbar zeigt sich auch hier nicht nur der Reiz, sondern auch eine gewisse Unausweichlichkeit des Umsteigens von Identität auf Differenz: Der Durchsatz unseres Alltags mit Medienangeboten, die den Anspruch erheben,
alles exakt und verlässlich zu beobachten und zu reportieren, was in der Welt überhaupt interessant ist, weckt Widerspruch und Möglichkeitssinn: Wie steht es denn mit den Wirklichkeitserfahrungen jenseits, vor und hinter den Medien? Wie steht es mit dem, was in keinem Bericht aufscheint? Fängt nicht dort erst 'das wirkliche Leben' an? Hat Mystik etwa nicht umsonst Konjunktur?
Aber gerade Medienkünstler wie Jochen Gerz oder Peter Weibel fragen schon seit langem skeptisch, ob es überhaupt (noch) ein 'Jenseits der Medien' geben kann, ob man den Medien noch 'den Rücken kehren kann'; so wie etwa J. Mitterer in seinen beiden Büchern immer wieder konstatiert, dass es kein 'Jenseits des Diskurses' gibt, dass man also Diskursen nicht den Rücken kehren kann?weiterlesen
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