Die Frage nach der Genese des Neuen zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk von Gilles Deleuze. Im Hinblick auf diese Frage zeigt die Studie von Christoph Kircher eine Kontinuität im Werk von Deleuze auf, die seine frühen, meist philosophiehistorischen Arbeiten in die späten, vor allem sozialtheoretischen Arbeiten verlängert. Ganz egal, ob es sich nun um feindliche oder um verbündete Denker handelt – die Frage nach dem Neuen leitet in jedem Fall die Art und Weise, in der Deleuze sich seinen Referenzautoren nähert und sie als Fürsprecher für sich in Szene setzt.
In diesem Sinne ist nicht nur seine Kritik an der Negativität der Hegel’schen Dialektik oder seine Kritik an der Transzendenz in Kants Transzendentalphilosophie zu verstehen, sondern auch seine Begeisterung für die Substantialität der Veränderung bei Bergson, für die explorative Zusammensetzung neuer Affektionsweisen bei Spinoza, für das radikale Werden der Kräfte bei Nietzsche, für das irreduzible Außen in den historischen Formationen Foucaults oder für die innovationssoziologische Begründung von Gesellschaft bei Tarde.
Das Buch zeichnet Deleuzes Auseinandersetzung mit den genannten Autoren nach und plausibilisiert vor diesem Hintergrund seine (und Félix Guattaris) leitende sozialtheoretische These: Gesellschaft wird primär durch ihre Fluchtlinien definiert, durch das, was sich in dieser an (absolut) Neuem ereignet. Das Neue wird gegenüber dem Alten dabei aber nicht in einem axiologischen Dualismus überhöht. Gesellschaft wird vielmehr in Bewegung gedacht, als eine zutiefst ambivalente Bewegung, die sowohl konservierende als auch transformierende Tendenzen in spannungsgeladenen Gefügen konkret miteinander verflechtet. Ist das Neue dabei primär, dann weil es als Fluchtlinie die Richtung vorgibt, in der ein Gefüge sich als mannigfaltige Gesamtheit bewegt und sich dabei womöglich vorübergehend als soziale Form konstituiert. Das Kartografieren von Fluchtlinien ist zentraler Gegenstand der Gesellschaftstheorie nach Deleuze.weiterlesen