Die Geschichte des Schlachters
Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Im März 1900 wird in der ländlichen Kleinstadt Konitz am östlichen Ende des Deutschen Reiches der Torso des 18jährigen Ernst Winter unter dem Eis entdeckt. Weitere Körperteile des brutal ermordeten Jungen werden in den darauffolgenden Tagen gefunden. Die Leiche wurde mit sauberen Schnitten zerstückelt und ausgeblutet.
Die Bevölkerung der Provinzstadt ist von dieser grausamen Tat schockiert, und die Gerüchteküche brodelt. Da es weder Verdächtige noch Motive gibt, setzt die Polizei eine hohe Belohnung für jeden Hinweis aus. Bald konzentrieren sich die Verdächtigungen auf den jüdischen Schlachter, und Ritualmordsvorwürfe werden laut. Die Stadt explodiert in antisemitischer Wut, so daß die Lokalbehörden das Militär zu Hilfe rufen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.
Noch viele Jahre später erinnert sich der expressionistische Schriftsteller Ernst Toller an den gellenden Nachhall in seinem Heimatort bei Schneidemühl, etwa 80 Kilometer von Konitz entfernt. Auf die Frage, warum die anderen Kinder Juden auf der Straße hinterherschreien, antwortet ihm sein Freund: "Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken". Am 5. Juni 1900 erscheint in der antisemitisch ausgerichteten "Staatsbürgerzeitung" eine ausführliche Eingabe des Fleischermeisters Gustav Hoffmann der seinen Konkurrenten in zwölf Punkten des Mordes an Ernst Winter bezichtigte. Diese "Geschichte des Schlachters" spielt eine zentrale Rolle in der öffentlichen Meinung.
Die Unruhen in Konitz, der schwerste Ausbruch antisemitischer Gewalt im wilhelminischen Deutschland, ermöglichen heute einen einzigartigen Blick auf Muster des Antisemitismus auf lokaler Ebene.
Helmut Walser Smith rollt anhand von Dokumenten den Mordfall noch einmal auf und macht deutlich, wie ein Ensemble unterschiedlichster Vorurteile - über Juden, soziale Klassen, Sexualität und das Denken von Verbrechern - die Ermittlungen beeinträchtigte und möglicherweise sowohl die Polizei als auch die Stadtbewohner blind machte für die Identität und die näheren Lebensumstände des wirklichen Mörders unter ihnen.
Unter Verwendung einer Fülle von bisher unbekanntem Archivmaterial hat Helmut Walser Smith die vielen falschen Geschichten und Beschuldigungen, die Akte der Bosheit und die zahlreichen Gerüchte zu einer dramatischen Geschichte verwoben. In der interdisziplinären Tradition der großen mikrohistorischen Studien - wie Carlo Ginzburgs "Der Käse und die Würmer: Die Welt eines Müllers um 1600" und Natalie Zemon Davis' "Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre" legt er das antisemitische Potential des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland bloß und antizipiert die Entwicklungen, die zum Holocaust führten.weiterlesen
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