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Die Lesbarkeit des Rechts

Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie

Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)

In seiner 'Rechtsphilosophie' erzählt Hegel von einem Herrscher der Antike, der seine Gesetze so hoch aufhängen ließ, daß sie vom Boden aus niemand mehr zu lesen vermochte. Das geradezu kafkaesk Quälende eines derartigen Rechts, das sich nicht erkennen läßt, ist evident: Eine Norm, deren Befehl unbekannt bleibt, stellt virtuell alle Bürger unter die Drohung, als Gesetzesbrecher wider Willen bestraft zu werden. Hegel bezeichnet in seinem Bericht denn auch jene antike – und ebenso eine ihr in den Folgen entsprechende zeitgenössische – Praxis ausdrücklich als rechtswidrig: 'Die Gesetze so hoch aufzuhängen, wie Dionysius der Tyrann tat, daß sie kein Bürger lesen konnte, – oder aber sie in den weitläufigen Apparat von gelehrten Büchern, Sammlungen von Dezisionen abweichender Urteile und Meinungen, Gewohnheiten u. s. f. und noch dazu in einer fremden Sprache vergraben, so daß die Kenntnis des geltenden Rechts nur denen zugänglich ist, die sich gelehrt darauf legen, – ist ein und dasselbe Unrecht.' Um tatsächlich Recht zu sein, müssen die Gesetze demzufolge von den ihnen Unterworfenen gelesen werden können. Die Geschichte von der Unlesbarkeit der Gesetze erlaubt allerdings auch eine andere, positivere Lesart. Sie stellt in Rechnung, daß das Unlesbare, Derrida zufolge, 'nicht Gegenteil des Lesbaren [ist], sondern der Grat (arête), der ihm auch die Gelegenheit oder die Kraft zum erneuten Aufbrechen gibt.' Nur das, was sich nicht lesen läßt, nicht auf eine eindeutige Sinndimension festzulegen ist, kann und muß in anderen Kontexten wieder gelesen, und das heißt: auf unterschiedliche Konstellationen angewendet werden. Die (Un-)Lesbarkeit des Rechts ist, so gesehen, zugleich die Bedingung seiner Möglichkeit. Eine dieser paradoxen Situation Rechnung tragende Betrachtungsweise, die sich, unter dem Gesetz, dessen lesbarer Unlesbarkeit widmet, ließe sich als postpositivistische bezeichnen. Die Frage nach der 'Lesbarkeit des Rechts' versucht, einige Aspekte eines solchen postpositivistischen Verfahrens auszubuchstabieren. Im Ausgang von de Mans Literaturtheorie (II.), Austins Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten (III.), Barthes’ leserorientierter Dekonstruktion der Hermeneutik (IV.), einer medienhistorischen Betrachtung (V.), Carl Schmitts – gescheitertem – Unternehmen, ein Rechtsdenken diesseits des Gesetzes zu etablieren (VI.), und schließlich der Frage nach möglichen pragmatischen Konsequenzen einer solchen Figur (VII.) wird ein Rechtsmodell entwickelt, das 'Textualität' nicht länger nur als eine bestimmte Qualität schriftlich niedergelegter Normen begreift, sondern die textuelle Verknüpfung als Kennzeichen des juristischen modus operandi ausmacht. Das Recht als Text zu lesen, benennt so eine Bewegung, die nie zur Ruhe gesicherter Bedeutung gelangen, sondern ihren jeweiligen prekären Status nur im Kontakt zu früheren und im Vorgriff auf nachfolgende Lektürevarianten halten kann. Vorwort 'Ich glaube', schreibt Deleuze in einem Brief vom 29. Dezember 1986 an Arnaud Villani, 'daß ein Buch, wenn es zu existieren verdient, rasch unter drei Aspekten vorgestellt werden kann. Ein würdiges Buch schreibt man nur, (1.) wenn man von ihm denkt, daß die anderen Bücher über das gleiche oder ein benachbartes Thema einer Art von Gesamtirrtum erliegen (polemische Funktion); (2.) wenn man von ihm denkt, daß etwas Wesentliches über sein Thema vergessen worden ist (erfinderische Funktion); (3.) wenn man es für fähig hält, einen neuen Begriff (concept) zu erschaffen (schöpferische Funktion). Gewiß, das ist das quantitative Minimum: ein Irrtum, ein Vergessen, ein Begriff … Von daher würde ich, wenn ich die notwendige Bescheidenheit aufgäbe, jedes meiner Bücher zur Hand nehmen und mich fragen: (1.) welchen Irrtum hat es zu bekämpfen in Anspruch genommen; (2.) welches Vergessen hat es beheben wollen; (3.) welchen neuen Begriff hat es erschaffen.' Diesem Deleuze’schen Prüfprogramm gemäß wären hier, unter vorübergehender Aufgabe der notwendigen Bescheidenheit zur Kurzcharakterisierung des Folgenden gesagt, (1.) der zu bekämpfende Irrtum die Vorstellung, daß das moderne Recht sich von seiner Textfixierung verabschieden muß; (2.) das zu behebende Vergessen die mit der bisherigen textuellen Gestalt einhergehenden Probleme, aber auch Möglichkeiten einer Lektüre, deren Bedeutung kaum ausgemessen erscheint; und schließlich (3.) der einzuführende zwar nicht neue, aber im juridischen Kontext bislang zumindest unübliche Begriff ein Recht, das, jenseits des klassischen Positivismus, in seiner Textualität zu erfassen ist. Ob der mit der Benennung dieser drei Minimalerfordernisse erhobene Anspruch auf ein einigermaßen 'würdiges Buch' tatsächlich eingelöst wird, kann nur seine Lektüre zeigen. weiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-938808-65-8 / 978-3938808658 / 9783938808658

Verlag: Velbrück

Erscheinungsdatum: 27.04.2009

Seiten: 224

Zielgruppe: Experten, Hochschule, Geisteswissenschaftler, Rechtstheoretiker, Literaturwissenschaftler, Philosophen, Akademiker,

Autor(en): Ino Augsberg

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