Die produktive Kraft des Scheiterns
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Auch wenn ein Scheitern mit erheblichen Konsequenzen verbunden sein kann und in der Folge häufig mit Sanktionen, Statusverlust, sogar mit sozialer Ausgrenzung bzw. Stigmatisierung verbunden ist, scheint sich gegenwärtig im europäischen Kulturraum ein Wandel in der Haltung gegenüber dem Scheitern anzubahnen. In allen gesellschaftlichen Bereichen wird es als Thema von hoher Aktualität diskutiert. Das Novemberheft 2014 des Wirtschaftsmagazins brand eins erschien zum „Schwerpunkt Scheitern“, die Ausgabe 1/2015 von Spiegel Wissen erschien unter dem Titel „Richtig scheitern“ und versammelt Berichte und Reportagen in den Kapiteln „Scheitern – Umdenken – Neuanfang“. Auch auf dem Buchmarkt mehren sich entsprechend ausgerichtete Publikationen. Eine Sammlung geflügelter Worte großer Persönlichkeiten rund ums Thema des Scheiterns findet man in dem Büchlein ‚Shit happens so get over it’ und stößt dort u. a. auf den Winston Churchill zugeschriebenen Spruch: „If you are going through hell, keep going“ (Corporate Authors, 2011). In „Worstward Ho. Aufs Schlimmste zu“, einem der letzten Prosatexte von Samuel Beckett (1906-1989), befinden sich die vielzitierten Zeilen: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“ (Beckett, 2002). „Nicht aufgeben!“ ist der Tenor all der aktuellen Ratgeber, Fachbücher und Medienberichte. Dabei erfolgt die Feststellung, ob wir „an einer Aufgabe oder einem Ziel gescheitert“ sind, meistens nicht anhand von ‚harten’ Fakten, vielmehr stellt sie „in erster Linie eine subjektive Bewertung, eine Beurteilung dar und keine objektive Tatsache“ (Morgenroth/Schaller, 2010: 10). Damit eröffnen sich vielfältige Zugänge zu Fragen des Umgangs mit dem Scheitern und rücken die im Scheitern enthaltenen Erkenntnis- und Entwicklungspotenziale in den Blick. Zwischen den polarisierenden Satzsäulen „Ohne Scheitern kann nichts Neues entstehen“, (vgl. Tragseiler, 2010: 151) und den aus dem Film ‚Die fabelhafte Welt der Amelie’ stammenden Worten „Das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar“ (zit. aus Mings, 2010: 126) werden sich Konzepte zur Analyse, Prophylaxe sowie zur Bewältigung von Erfahrungen des Scheiterns zu orientieren haben. So können wir einerseits hoffnungsvoll Morgenroth und Schaller folgen, die schreiben: „Eines der wichtigsten Potenziale des Scheiterns scheint darin zu bestehen, Menschen zu befähigen, Neues an sich und in ihrer Umwelt zu entdecken“ (ebd., 2010: 27). Andererseits sollte nicht aus dem Blick geraten, dass Verluste und Folgen von großer Tragweite für den Einzelnen mit dem Scheitern verbunden sein können. Hinterhuber weist darauf hin, dass dann, „wenn die zentralen Grundannahmen des Menschen verletzt werden“, es zu einer posttraumatischen Verbitterungsstörung kommen kann (Hinterhuber, 2010: 133). Im Mittelpunkt therapeutischer Maßnahmen stehen für ihn u.a. „die Stärkung des Gefühls der Kompetenz des Betroffenen“ sowie eine „Modifikation der Sichtweise“. Zu den in der Fachliteratur empfohlenen therapeutischen Zielen wird – neben dem Aufbau sozialer Kompetenzen und Planungskompetenzen – die Notwendigkeit einer Haltungsänderung hervorgehoben. Dabei wird die Bedeutung von positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen herausgestellt, die zur Selbstwertstärkung, zum Kompetenzerleben, zur Entwicklung von Hoffnung und zum Erleben von Freude unabdingbar sind. Während zumeist verhaltenstherapeutische und kognitive therapeutische Verfahren empfohlen werden, stehen bisher die Möglichkeiten, die die Kunsttherapie bietet, kaum zur Debatte.
Welche Hilfen die Kunsttherapie jenen bietet, die gescheitert sind, vermitteln anschaulich die drei Beiträge zum Schwerpunktthema dieses Heftes. Kai Bammann hat mit Strafgefangenen im Gefängnis gearbeitet. Er beschreibt, welchen zentralen Stellenwert das Thema des Scheiterns in deren Leben besitzt und zeigt auf, wie sie in künstlerischen Prozessen Defizite überwinden und das Scheitern lernen können. Das bedeutet in seinem Arbeitsfeld, als geduldiger Begleiter die Gefangenen zu ermutigen, nach einem Scheitern einen Neuanfang zu wagen sowie die dazu erforderliche Lernbereitschaft zu entwickeln. Ursula Maria Dichtl arbeitet mit psychosomatisch Erkrankten im klinischen Kontext. Sie legt dar, wie wesentlich für diese Patienten die Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Scheiterns ist. Mit der Sichtweise, dass künstlerische Schaffensprozesse einen Prototypen für die Auseinandersetzung des Einzelnen mit sich selbst und den Realitäten seiner Lebenswelt darstellen, bietet sich für sie die Kunsttherapie als ein Verfahren an, das zentral auf einen konstruktiven Umgang mit Erfahrungen des Scheiterns und mit der eigenen Lebensgeschichte ausgerichtet ist. Aus einer anderen Perspektive greift Ursula Oberhauser das Thema des Scheiterns auf. Sie befasst sich mit einem Konflikt, der innerhalb der therapeutischen Beziehung zwischen ihr und einer Patientin entstanden war. Spannend nachzuvollziehen sind ihre minutiöse Analyse und Reflexion der kritischen Situation, des Übertragungsgeschehens und des weiteren Therapieverlaufes. Wenn sie schließlich zu ganz neuen Sichtweisen gelangt, dann zeigt dies einmal mehr, dass aus dem Scheitern Neues entstehen kann.
Zusätzlich zum Schwerpunktthema finden Sie weitere Beiträge in diesem Heft, die das große Spektrum der Kunsttherapie dokumentieren: Im Beitrag von Rita Eckart und Klaus Heilmann geht es ebenfalls um die Kunsttherapie mit Strafgefangenen. Sie begeben sich hier in einen Dialog, in dem sie abwechselnd einzelne Aspekte ihres Arbeitsfeldes beleuchten und aufzeigen, dass gerade mit Hilfe der Kunsttherapie die erzwungene ‚Auszeit’ hinter Gittern zu einer Zeit des Nachdenkens, der Umkehr und des inneren Wachstums genutzt werden kann. Der Künstler Marc Ballhaus beschreibt anhand von Beispielen seiner Bilder und Skulpturen, warum Kringeln für ihn so wichtig ist. Und wir glauben ihm, wenn er sagt „Kringeln macht Freude!“ oder „Kringeln ist Wegfindung!“ und werden dazu angeregt, es selbst einmal zu probieren oder, ganz im Winnicott´schen Sinne, es in der kunsttherapeutischen Arbeit einzusetzen.
Wir freuen uns, in diesem Heft wieder eine Reihe anregender Kurzbeiträge in der Rubrik SHORT CUT veröffentlichen zu können. Antje Hackenthal-Schulze blickt auf das Edith Kramer Symposium zurück und befasst sich mit Fragen zum sich anbahnenden Generationenwechsel in der Kunsttherapie; Regine Merz zeigt Möglichkeiten der Kunsttherapie in der Burnout-Prävention auf; Barbara Stellbrink-Kesy engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit und lässt uns an den schwierigen Rahmenbedingungen wie auch an den erfüllenden Momenten teilhaben, wenn die Kunsttherapie Farbe in das belastete Leben der noch jungen Flüchtlinge bringt. Es schließen sich drei Ausstellungsbesprechungen an, in denen es den Autoren gelingt, die Bezüge zwischen Kunst und Kunsttherapie nicht nur lebendig zu halten, sondern aktuelle Themen und Positionen der Bildenden Kunst in ihrer Relevanz für die Kunsttherapie zu befragen. Dies haben Hartmut Majer, Daniel Behrmann und Ulrike Pfeiffer getan, die Ausstellungen in Berlin, München und Stuttgart besucht haben.
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