Die Schwestern
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Azurblau – jeder nannte es azurblau. Der strahlend
blaue Himmel gibt dem Meer die Farbe – himmelblau.
Ein unhaltbares Klischee. Das Blau war viel dunkler
als die Farbe des Himmels und von solcher Intensität,
dass er stehen geblieben war, um dieses Blau in sich aufzunehmen,
aufzusaugen, um es nie mehr vergessen zu
können. So stand er minutenlang, ehe er sich besann
und den steinigen Hang hinunterlief, dem Blau entgegen.
Aber das zog sich hin. Er glaubte sich dem Meer
viel näher, als er es tatsächlich war. Nach mehr als einer
halben Stunde hatte er erst den steinigen Hang hinter
sich gelassen, die Strecke, die er noch zurücklegen musste,
würde mindestens ebenso lange dauern.
So ging er weiter. Die Sonne glühte auf seinen
Haaren, doch unverdrossen beschleunigte er seinen
Schritt. Nun, auf Augenhöhe mit dem Blau, veränderte
sich das Farbspektakel. Das Blau verlor sich in einem
flirrenden Geglitzer auf der Oberfläche des Meeres,
die fortwährend in Bewegung zu sein schien und sich so
ständig veränderte. Erst nahe des Horizontes fand er das
zuvor noch nie gesehene Blau wieder.
Schließlich erreichte er den Strand. Er stapfte über
unzählige kleine Steine, bis er das Wasser endlich
erreicht hatte. Er watete ein kleines Stück hinein. Das
Wasser um ihn herum war hier nicht mehr blau. Es
erschien ihm bald weiß, bald braun und dann wieder
grün, aber nicht blau. Das atemberaubende Blau zeigte
sich ihm erst wieder, als er den Blick hob.
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Erschöpft ließ er sich auf die Knie fallen. So verharrte er
lange, während die sanfte Dünung das Wasser bis über
seine Hüfte ansteigen und dann wieder zurückfließen
ließ. Begleitet wurden diese rhythmischen Bewegungen
von einem feinen Rauschen und Gurgeln, das anund
abschwoll, das hin und wieder gänzlich gegen die
ansonsten gleichbleibende Rhythmik in ein Klatschen
überging, wobei ihm unzählige Wassertropfen gleichsam
einer Dusche ins Gesicht schossen und kühle, feuchte
Flecken auf seinem Hemd hinterließen.
In dem Augenblick, als sich das Wasser gerade wieder
einmal zurückzog, verdunkelte sich die Wasserfläche vor
ihm etwas, und er drehte sich rasch um. Er erkannte eine
weibliche Gestalt mit wehenden, langen, roten Haaren,
und er erhob sich augenblicklich. Die Gestalt lächelte.
Sie trug ein weißes Gewand, das bis in das Wasser reichte.
»Wer bist du?«, frage er. Die Weißgewandete lächelte
bei dieser Frage noch mehr, streckte die Hand nach ihm
aus und sagte: »Komm.« Er ließ sich bedenkenlos von
ihr führen. Da begann die Weißgewandete zu singen. Sie
sang ohne Worte, und die melismatischen Figuren ihres
Gesangs drangen in seine Seele und ergriffen Besitz von
ihm.
So erreichten sie bald einen Pinienhain. Die Fremde
beendete ihren Gesang, und die beiden setzten sich in
den Schatten der Bäume.
»Wer bist du?«, fragte er erneut. Sie saßen sich gegen
über, und sie ergriff mit ihren Händen die seinen und
sagte:
»Ich bin Leukosia.«
»Leukosia? Das klingt griechisch. Leukosia? Es gibt
einen Mythos über Leukosia, genannt die Weiße.«
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»Ich bin Leukosia«, fing die Weißgewandete wieder zu
sprechen an, und jetzt sah er, dass ihr weißes Gewand
durchscheinend war und dass sie nichts darunter trug.
»Ich bin Leukosia, die Weiße«, und jetzt erst gewahrte
er ihre Augen, grüne Augen, geheimnisvolle und
undurchdringliche Augen. Da bereute er, dass er mitgegangen
war, mit ihr – diesen Weg, zu diesem Pinienhain,
wo sie jetzt saßen. Und er begriff, was er, was jedermann
wusste, dass es Wege gibt, die unumkehrbar sind, und
schlimmer noch, die Handlungen, die Geschehnisse sind
es. Selbst wenn er alleine den Weg dahin zurückginge,
wo er hergekommen war, den Weg mit Leukosia war er
dennoch gegangen – unumkehrbar.
»Du hast mich gesucht, und du hast mich gefunden«,
sagte Leukosia und umschlang ihn.
Fahrian erwachte. Er brauchte etwa eine Minute, um
sich zurechtzufinden. Es war noch dunkel im Zimmer,
und er sah auf den Wecker: halb vier. Neben sich hörte
er das gleichmäßig sanfte Atmen von Anna. Er betrachtete
ihre Silhouette, die sich im Dunkeln abzeichnete.
Sie lag auf dem Bauch, einen Arm hatte sie unter das
Kopfkissen geschoben. So schlief sie immer. So schlief
sie zumindest immer, wenn sie friedlich schlief, wenn
sie mit sich und der Welt im Reinen war. Das war selten
genug der Fall.
Er richtete sich auf und schob sein Kopfkissen hinter
seinen Rücken. Er war verwirrt, weil er wusste, dass
er geträumt hatte, schlecht geträumt hatte, wie so oft
in letzter Zeit. Das hatte vor sechs oder sieben Jahren
begonnen, dann eine Zeit lang aufgehört, sodass er
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glaubte, es wäre vorbei. Dann kamen sie wieder, diese
Träume, so wie diese Nacht. Er bemühte sich, das
Geträumte ins Bewusstsein zu holen, doch mehr als eine
weiße Gestalt am Strand eines tiefblauen Meeres kam
ihm nicht in den Sinn. So war das immer, und er fragte
sich, warum er glaubte, schlecht geträumt zu haben. Er
konnte sich ganz selten an die Träume erinnern. Meist
blieben ihm nur einzelne Bilder, so wie in dieser Nacht.
Er schüttelte den Kopf und schaute nach rechts, wo
Anna leise ein- und ausatmete, ganz leise, kaum hörbar.
Er schaute sie lange an, und er wünschte sich, die
NACHT hätte nie begonnen.
Er spürte einen kühlen Luftzug und bemerkte erst jetzt,
dass sein Kopf glühte und sein Haar verschwitzt war. Er
bewegte sich vorsichtig aus dem Bett und ging ins Bad,
ohne Licht zu machen. Am Waschbecken ließ er eine
Weile kaltes Wasser laufen. Dann hielt er die Hände in
den dünnen Wasserstrahl, um das Wasser aufzufangen.
Er kühlte damit sein Gesicht. Das wiederholte er mehrere
Male, bis er das Gefühl bekam, dass sein Kopf zu
glühen aufgehört hatte.
Er trocknete sein Gesicht ab, auch seine Haare, so gut
es ging und schlich dann zurück in sein Bett. Er blieb
aufrecht im Bett sitzen, mit dem Kissen im Rücken. Er
schaute Richtung Fenster, das weit offen stand. Von der
Straße unten war kaum etwas zu hören. Das war nicht
verwunderlich um diese Zeit. Er sah wieder nach Anna,
und strich ihr vorsichtig über das Haar.weiterlesen
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