Skizze einer Soziologie (1899) Einzige autorisierte deutsche Übersetzung von 1908
Produktform: Buch
Gabriel Tarde (1843-1904), einer der Gründungsväter der Soziologie in Frankreich und der große Gegenspieler Emile Durkheims, war lange Zeit vergessen. In Deutschland wurde er eigentlich nur von Ferdinand Tönnies ausführlich gewürdigt. Plötzlich, hundert Jahre später, tauchen seine Werke aus der Versenkung auf und werden eingehend rezipiert. Vehement bezieht sich Bruno Latour auf ihn, ebenso Gilles Deleuze und Peter Sloterdijk. Richard Dawkins’ Theorie der Meme kann ihre Verwandtschaft mit Tardes „Gesetzen der Nachahmung“ kaum verbergen. Was sind die Gründe für diese plötzliche Aktualität einer hundert Jahre alten Theorie? Die Antwort fällt mehrdeutig aus.
Tarde, zum Ersten, erklärt, ganz im Gegensatz zu Durkheim und zur tradierten Mainstream-Soziologie, das Große durch das Kleine, das Ganze durch das Einzelne. Soziologie ist, so gesehen, nichts anderes als angewandte Psychologie, eine Aussage, die sich mit der aktuellen, um nicht zu sagen: postmodernen Sichtweise deckt, derzufolge das Individuum als entscheidender Motor des Vergesellschaftungsprozesses erscheint und die Gesellschaft als Resultat des Handelns von Menschen. Wenn Tarde zufolge Handlungen, Artefakte und Ideen, nach denen Individuen und Gruppen zu klassifizieren seien, die Regulative und Variablen des Sozialen ausmachen, dann, zum Zweiten, ist die Affinität zu Bruno Latours aktueller Akteur-Netzwerk-Theorie kaum zu übersehen. Wenn er, drittens, gesellschaftliche Abläufe durch den Modus der Imitation erklärt („Gesellschaft ist Nachahmung!“), dann nimmt er zweifellos Richard Dawkins’ Theorie der Meme vorweg. Und wenn er schließlich die drei Gesetze des Sozialen, das der Wiederholung, des Gegensatzes und der Anpassung, in der Physik und in der Biologie wieder findet, dann reißt er, überaus aktuell, die tradierten Grenzen ein zwischen der Natur und der Gesellschaft und den ihnen entsprechenden Fachdisziplinen. Wenn deshalb hier vom „Sozialen“ gesprochen wird, dann in einem ganz zeitgemäßen, in einem umfassenden Sinn, der es erlaubt, Anwendungsfelder so unterschiedlicher Wissenschaften wie Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Krimonologie, Pädagogik, Politologie oder Soziologie einzubeziehen, das zu erklärende Geschehen also nicht vorschnell auf eine tradierte Fachdisziplin oder einen bestimmten Wissenschaftstypus einzuschränken.
Die vorliegende, seinerzeit in zahlreichen Auflagen erschienene Monografie zieht, nach des Verfassers eigenem Bekunden, das Resümee aus den drei großen Hauptwerken der Soziologie Tardes, die ihr vorausgegangen sind: „Die Gesetze der Nachahmung“ (1890), „Die soziale Logik“ (1894), „Der allgemeine Gegensatz“ (1897). Ein umfangreiches Nachwort von Arno Bammé (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) nimmt Bezug sowohl auf die zeitgenössische als auch auf die aktuelle Diskussion, die Tardes Soziologie ausgelöst hat, und versucht, das hundertjährige Vergessen und die gegenwärtige Renaissance dieses Theorie-Entwurfs zu erklären.
weiterlesen