Die Stimme des Hauses
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Vorwort
Karin Strauß hat alle Stärken einer sehr guten Autorin: eine mühelos kraftvolle Sprache, Wahrnehmungsfähigkeit, Einfallsreichtum, Unabhängigkeit und die Freiheit von jeglicher literarischen Pose.
Bereits mit ihrem ersten Band 'Sturzflüge' zeigte sie sich als Meisterin der Kurzgeschichte. Mit wenigen Strichen erschafft sie eine komplette Welt. Das ist bewundernswert und macht allergrößtes Vergnügen.
Die fantastischen Geschichten in diesem Band sind Dystopien. Nicht der breite Strom eines tröstenden Eskapismus ist hier zu finden, sondern ein Strauß von 27 Kurzgeschichten, die knapp und konkret die Sinnfragen unserer Wirklichkeit aufgreifen, mit messerscharfen Pointen.
Eine ganze Zukunftswelt entsteht hier, blühend, organisch, chaotisch. Man bewegt sich mit Gleitern und kann Flugwohnungen mieten, Lieferroboter sortieren Einkäufe in den Kühlschrank und nehmen den Müll mit. Geruchsdetektoren werfen Deozerstäuber aus. 'In Geschichtskursen wurde erzählt, dass die Menschen sich einst hatten anstrengen müssen.' Nun kann man per 'Download-Surgery' Operationen durchführen, sich von sprechenden Häusern trösten und von Gefühlsinterpretatoren beraten lassen. Einsame Sapientes dürfen für die Liebe Surrogate anfordern. Kinder lässt man von professionellen Brüterinnen austragen, beim Design hilft die Anfertigung eines individuellen genetischen Katalogs. Man kann sie auch – im gewünschten Alter – per Zufallsgenerator beim Creator eines Kinderhauses bestellen und löschen, wenn man sie nicht verträgt. Firma Optimorph verwandelt sogar individuelle Haustiere in menschliche Gefährten.
Der Mensch – oder was aus ihm geworden ist – hat sich das Universum nach seinen Wünschen eingerichtet. Aber jede Wunscherfüllung bringt neue Probleme hervor, und es gibt die üblichen Missgeschicke. Ein Sapiens lässt sich als Atombündel auf einen anderen Stern beamen, wo man beim Zusammensetzen seine Hände vertauscht. Ein Missionar will die Eingeborenen eines fremden Planeten 'entwickeln', doch die sind so vergnügt, dass sein ganzer Androiden-Trupp das Lachprogramm aktiviert und überläuft, während der Eroberer in seufzenden Feldern festwächst. Ein einsamer Träumer soll 'entfernt' werden, weil er sein Glücksziel nicht erreicht, und kann nicht mal mit seinem Sohn darüber reden aus Furcht, dessen Glückskonto zu belasten. Selbstverwirklichung und Wohllebe sind Pflicht und werden von undurchsichtigen Kommissionen überwacht. Gelehrt wird Philophysik, und natürlich gibt es auch in jener Welt Wanderprediger und Oberpater, man diskutiert über den Rand des Universums und über intelligente Formgeber. Der Sapiens ist ängstlich und ratlos wie je, doch ebenso wie je anarchisch und subversiv. Eine Heldin hat es mit tausend Tricks geschafft, ihren 'persönlichen Wert' auf über vierhundert Punkte zu treiben, und verfällt dann einem Mann mit schwarzer Augenklappe und Zahnlücken.
Diese Welt ist absurd, komisch und unheimlich, dabei von eigentümlicher Poesie. Im Zentrum steht nicht die Bewährung eines Superhelden, sondern das Wahrheits- oder Orientierungsbedürfnis verschiedener sehnsüchtiger, verwirrter, skeptischer Gestalten. Die Sprache ist von unaufdringlichem Rhythmus, knapp und spannungsvoll. Oft schwingt Abgründiges mit: 'In dem Augenblick, als Humo Wander zum ersten Mal sicher war, den richtigen Lebensweg eingeschlagen zu haben, erhielt er die Vorladung zur Glückskommission.'
Man muss die Erzählungen nicht im Zusammenhang lesen. Man kann vor- und zurückblättern oder nur eine pro Tag lesen. Man kommt trotzdem sofort rein: von null auf hundert, in bester Kurzgeschichten-Tradition.
Petra Morsbach
Juli 2014weiterlesen
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