Auf den ersten Blick wirkt August von Kotzebues (1761 – 1819) sentimentales Familiendrama Die Unvermählte (1808) wie ein Rührstück: Leopoldine und Eduard, die beiden Pflegekinder der Amalie von Seelenkampf, lieben einander und wollen heiraten. Ohne Einwilligung des verschollenen Vaters von Leopoldine aber will Amalie der Hochzeit nicht zustimmen. Als der Vater – Amalies große Liebe, der sie in jungen Jahren verlassen hatte, weil sie beide arm waren – nach siebzehn Jahren Abwesenheit erscheint, verweigert er seiner Tochter die Erlaubnis, denn Eduard ist kein Adliger. Armut und unüberwindbare Standesgrenzen sind die beiden großen Hindernisse einer sich erfüllenden Liebe.
Auf den zweiten Blick ist Die Unvermählte eine erstaunliche Reflexion über Mütterlichkeit und ein Plädoyer für die gesellschaftliche Aufwertung alleinstehender Frauen im frühen 19. Jahrhundert. Amalie von Seelenkampf, unverheiratet und ohne leibliche Kinder, ist ihren Pflegekindern die eigentliche und bessere Mutter. Zugleich übernimmt sie in einer Krisenzeit des Staates karitative Aufgaben des Landesfürsten – eine »Landesmutter« avant la lettre.
In ihrem Nachwort entfaltet Barbara Vinken, wie Kotzebue das patriarchale Prinzip der Blutsverwandtschaft durch das einer geistigen – und einzig wahren – Mütterlichkeit ersetzt. An die Stelle der Frau als Maitresse und Ehefrau tritt die Frau als gleichberechtigte Freundin des Mannes.weiterlesen