Die versandete Zeit ist Tomás González‘ komplexester, ehrgeizigster Roman. Und viele seiner Fans sagen, er sei sein schönster. Dem Autor gelingt mit diesem Buch das Kunststück, einen Bogen zwischen den Zeiten (1911–1978) und zwischen den Kontinenten (Südamerika–Europa) zu spannen, ohne dass die Geschichte ihm aus der Hand gleitet und ausfranst.
Die versandete Zeit ist in erster Linie eine Liebesgeschichte, und zwar über Josefinas lebenslange Liebe zu Alfonso, der eines Tages aus der Provinz in die Hauptstadt und dann in die Welt aufbricht und nach seiner Rückkehr eine andere heiratet. Aber das Buch ist noch vieles mehr: Es ist ein Reisebuch durch das Kolumbien vor 100 Jahren, in dem die Landschaften, die damals gebräuchlichen Verkehrsmittel und das soziale Ambi-
ente zu Beginn des technischen Zeitalters lebendig werden. Es ist ferner ein Brückenschlag von Kolumbien nach Europa, weil Alfonso in Belgien vom Ersten Weltkrieg überrascht und Zeuge der Kriegsgräuel wird (insofern ist es auch ein Antikriegsbuch). Und es ist schliesslich ein Buch über das Schreiben eines Romans, denn der Autor, der als der Chronist León auftritt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte von
Alfonso und Josefina anhand von Alfonsos Tagebüchern und durch Befragung der alten Josefina zu erforschen, und lässt die Lesenden an diesem Prozess teilhaben. 'Das Buch handelt von der Zeit und der Erinnerung, vom Versanden der Erinnerung', sagt der Autor. Und hat zugleich seine Protagonistin unsterblich gemacht. Denn die Kapitel, die von der greisen Josefina handeln, sind die zartesten und zärtlichsten Seiten, die die kolumbianische Literatur hervorgebracht hat.
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