Die Versuchung
2003-2004
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Mit der „Versuchung“ legt der Maler, Schriftsteller und Philo-soph Heinrich Leonhardt Hillmann eine Fortsetzung seines breit angelegten „Lebensselbstaufschreibungsprozesses“ vor, den er in der Trilogie der Bände „Die Wandlung“ (2006), „Die Kunst des Schweigens“ (2008) und „Der unnütze Knecht“ (2009) begonnen hat. Anders als dort liegt in der „Versuchung“ der Schwerpunkt weniger auf Briefen als auf tagebuchähnlichen Reflexionen, Beobachtungen und Selbstbeobachtungen, die durch kurze Maximen, Aphorismen und Zitate ergänzt und konterkariert werden. Schauplatz ist das niedersächsische Bad Salzdetfurth in der Nähe von Hildesheim, wo Hillmann bei seiner Schwester lebt und arbeitet.
Die „Versuchung“ erzählt von einem Dichter- und Philosophenleben am Rande der bürgerlichen Gesellschaft und von der Eroberung eines selbstbestimmten künstlerischen Lebenswegs, der sich gegenüber der skeptischen Umwelt und eigenen Anfechtungen durch die psychische Krankheit zunehmend zu behaupten lernt. Heinrich Hillmann, der Künstler und Philosoph, ist ein Außenseiter, aber auch ein aufmerk-samer Beobachter seines Umfeldes in der Provinz. Die Angehörigen des Stammtischs im beschaulichen Hotel „Goldhirsch“, die er regelmäßig besucht, nimmt er ebenso genau in den Blick wie Zufallsbekanntschaften auf der Straße, Freunde, Ärzte oder Verwandte. Wir erfahren von den Bildern, die er malt, lernen seine Künstlerfreunde kennen und nehmen Anteil an seinen persönlichen Gedanken, Gefühlen und Hoffnungen. So wird Heinrich Hillmann zum Chronisten nicht nur der Kleinstadt, die er bewohnt, sondern auch seiner selbst.
In der „Versuchung“ sind die bohrenden Fragen und Selbstzweifel, die den Autor in seinen bisherigen Büchern beschäftigt haben, zwar noch gegenwärtig, aber zunehmend zeichnen sich Antworten und auch Gewissheiten ab. Aus dem Alltäglichen, Persönlichen seiner Erlebnisse, aus scheinbar banalen Konflikten und Problemen, destilliert Heinrich Hillmann Reflexionen, in denen sich eine Philosophie der Wahrheits- und Menschenliebe abzeichnet. Der Autor geht mit sich und seinen Mitmenschen manchmal streng ins Gericht, aber diese Strenge bleibt immer geleitet von dem humanistischen Ziel, sich und die anderen zu einem besseren, selbstbestimmten Leben zu erziehen, in dem Güte, Toleranz und Individualität Vorrang haben vor Egoismus und Dünkel. Selbstverfertigte Vorurteile und Klischees werden von ihm ebenso verurteilt wie Fremdbestimmung, Anmaßung, übertriebenes Ordnungs-denken und Materialismus – Versuchungen, denen der Autor mit Phantasie, Witz und Eigensinn zu begegnen weiß.
In ihrer hybriden literarischen Form, die autobiographische Erzählung, philosophische Reflexion und beiläufi-gen Aphorismus zu einer Einheit amalgiert, die sich von Tag zu Tag fortschreibt, die im Leben die Gedanken findet und sie dann wieder ins Leben zurückspiegelt, kennt die „Versuchung“ kaum direkte Vorbilder. Der Vergleich mit Brechts „Arbeitsjournalen“ griffe wohl ebenso zu kurz wie der mit Ludwig Hohls „Notizen“, obwohl zu Letzterem mancherlei Verbindungen bestehen mögen. Wie Ludwig Hohl (1904-1980) ist auch Heinrich Hillmann ein Suchender und Sammler, und wie der heute fast vergessene Aphorist, der seine Texte in einem Genfer Keller im Arbeiterviertel La Jonction verfasste, hat auch Hillmann sich für ein Leben jenseits des Bequemen, des Behaglichen entschieden. Seine Vorbilder und Anregungen sucht er nicht in zeitgenössischer Literatur oder in philosophischer Sekundärliteratur, sondern in den Klassikern, bei Shakespeare und Epikur, bei Seneca und in der Bibel, die er immer wieder studiert. Er stellt Fragen und findet Gewissheiten in kurzen, fast naiv anmutenden Sentenzen, die in ihrer Klassizität fast zeitlos klingen: „Erinnern ist Finden, Vergessen ist Verlieren“, „Der gute Mann wird in der Not erprobt“, „Ich kann nicht leben und hart gesinnt sein.“
Wer sich Heinrich Hillmann Prosa, ihrem eigenartig friedlichen Rhythmus anvertraut, macht eine besondere Erfahrung: Er spürt, wie die Welt groß und zugleich klein wird. Er sieht das Weite nahen und das Nahe weichen. Das Kleine wird groß, und das Große klein: „Ich schreibe von Größe, und die Größe kommt mir klein vor.“ In einem eigenartigen Spannungsfeld zwischen Weitung und Verdichtung, Enge und Ferne, Selbstzweifel und Größenphantasien entsteht Heinrich
Hillmanns Denkspur, entsteht sein genuines Denken. Das Normale, das Alltägliche wird ihm immer wieder zum Problem, aber er löst es nicht im Alltäglichen, sondern im Allgemeingültigen, im Überzeitlichen: „Für die Gründung, für das Grundlegende, bin ich wie geschaffen. Ich schaffe immer Gründe, lege Gründe, Basen, um später auf sie bauen zu können – immer wieder, immer wieder neu. Nichts anderes kann ich als Gründe legen.“ Wer diese existenzielle Sinnsuche, ihre Radikalität und ihren Anspruch, nur als vermeintliche Selbsttherapie liest und begreift, hat diesen Autor nicht verstanden. Heinrich Hillmann stellt Fragen nicht, um sich zu „heilen“ (das Wort „Heilung“ taucht in der „Versuchung“ nicht auf), sondern er stellt sie stellvertretend für uns, die wir längst zu fragen aufgehört haben. Er nimmt uns mit auf eine Suche, die vieles und manchmal sogar alles in Frage stellt, und er verschont seine Leser nicht, wenn es darum geht, Sachverhalte präzise darzustellen und moralische Konflikte schonungslos herauszu-arbeiten. Wir werden konfrontiert mit Problemen, Misshelligkeiten, Streit und müssen Stellung beziehen – so wie der Autor selbst. Widerstehen wir der Versuchung, auf alles gleich eine Antwort zu wissen? Nehmen wir die Herausforderung an, die dieses Buch bedeutet? Die „Versuchung“ fordert uns, ja, sie zwingt uns zur eigenständigen Denkarbeit, um unsere selbstverschuldete Unmündigkeit zu überwinden.
Lassen wir dieses kurze Nachwort ausklingenen mit einem Zitat, in dem das denkerische Pathos der „Ver-suchung“ vielleicht am dichtesten formuliert ist und das so etwas wie eine poetische Utopie der Unsterblichkeit entwirft: „Im Jetzt schreite ich fort im Denken und überhole selbst den Tod, wie die Zeit den Tod nicht kennt. Warum sollte ich ihn kennen? Wie der Tod immer wieder einbricht ins Lebendige – die Zeit kümmert sich nicht darum. Der Tod hält den Fortschritt nicht auf, sosehr er auch wüten mag. Das Lebendige und das Fortschreitende obsiegen. Verlassen sind die Gräber, und die Blume blüht auf ihnen.“
Jonas-Philipp Dallmann
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