»Boletus Grimm war eigentlich ein stürmischer Poet, der voller Enthusiasmus glaubte, an sich selbst zu erleben, was Worte und Sprache ausmachen. Und entsprechend schrieb er, wenn er ungebremst und ohne Regel, ohne Bedenken und ohne die notwendige Selbstzensur Gedichte entstehen ließ, schnell und ohne Reue. Dabei passierte es ihm, daß Stimmen in ihm miteinander konkurrierten, eine große Buntheit, die aber nie beliebig daherkam. Das war, als schwömme er in verschiedenen Wassern, ach Wassern, Brühen und Aufgußgeschichten, einmal als Boot, einmal als Kloß, einmal als Comorahm auf dem Spiegel eines norditalienischen Sees. Und so gelangten seine Texte in Zustände, die schwierig zu nageln waren, mal gab es einen überdachten Ton, eine Passage des Flanierens, daneben ein verspieltes Ragout aus Lorchel und Samtfuß [im Schnee aufgespürt], dann wieder Brot und Gesang. Jedenfalls fand er sich so zahlreich wieder, daß er auf die Idee kam, zwei Autoren zu erfinden, die seine Gedichte im Ensemble verfasst haben sollten: Die fratres.«
Mit dem Buch dokument_31 | ein glossay zünden die beiden Autoren und Collagisten Frank Milautzcki & Armin Steigenberger – nach sprich: malhorndekor und barbotine (Black Ink, 2021) – die zweite Phase ihrer dialogischen Zusammenarbeit und wagen sich hierbei verteilt auf 160 Seiten in weitere neue sprachliche Experimente und Felder:
»Ein Dichter schickt Gedichte, die nicht fertig sind, an einen anderen Dichter. Im Jazz wäre das der, der das Thema vorgibt, und andere spielen und stimmen sich darauf ein. Der andere spielt drauf und drüber.
Die Schwierigkeit beim tatsächlichen Geschehen dieses Buches war, dass auch die Löschung erlaubt war, das Streichen, Ersetzen, Übertönen, Ausblenden, eigentlich alles, was jeder jemals denkt, einem Text mitgeben zu müssen, um mit ihm als gelungene eigene Poesie d'accord zu sein. Die Frage war also: Wie viel darf vom Anderen sein, damit ich es als Eigenes lieben kann.
So entstanden diese Texte, die sich bis in die Atome vermischen, alles Reaktionspotential aus zwei Richtungen erhalten. Es ist nicht feststellbar, wer wann was beigetragen hat. Das Gedicht ist ein Komplex, aus dem Handwerk beigebrachtes Gebilde und hier sind es zwei Hand-werker, die an der gleichen Sache schreiben, ohne sich für irgendetwas böse zu sein. Im LyrikerInnenhandwerk nicht üblich, wo selbst Kommas innere (und öffentliche) Debatten bedingen können.
Umso überraschender dies alles hier ausgeschaltet zu finden. Geradezu unwichtig. Tatsächlich hat hier jeder beim anderen ordentlich zugelangt, überschrieben, eingemischt, neues hinzugefügt, ganze Kapitel erfunden, erweitert, Vorhandenes rausgeschossen, die Warengruppe manipuliert und die Maische verfälscht. Jeweils mit vorausinvestierter Zustimmung des Vorträgers. Weil es wichtiger war, den Text unter fremder Hand wachsen zu sehen, befreit vom eigenen Griff und überrascht zu werden. Dazu gehört eine Grundeinstellung Texten gegenüber, die den Hintergrund des Genius verneint und ihnen eigene Rechte einräumt: Sie dürfen, müssen, sollen davontragen, was ihnen geschieht und nicht als Kniefallprodukt ein biobibliographisches Highlight darstellen müssen. Sprich: Man muß verzichten können, um Texte zu wollen. Und so alles Eigene ausliefern der Trompete des anderen, von dem man weiß, er will den Text auch. Genau das ist hier geschehen.«
»DIE DOKUMENTATION_31 SPRICHT DAVON: Du träumst: Leben kam, kam zur Drei und punktete … Leinen verdreckt, zwischen Rot und Blau trägt uns die Ritschka unsrer Avatare hin und her zu den Maltränken. Dokumentiert sind auch hierauf Kommentare. // Red langsam. / Räum Leben ein. // Das klingt doof und hat den Sound, der flog durch die Luft. / Vergewissere dich. Hab Maß und Gefälle, um ein breites / Anwendungsgebiet zu schaffen.«
Frank Milautzcki, geboren 1961 in Miltenberg, lebt in Klingenberg am Main. Nach einem Studium der Sozialarbeit in Frankfurt am Main arbeitete er von 1989 bis 2009 als Schichtarbeiter in der chemischen Industrie, wo er seit 2009 als HSE-Coordinator für Gesundheit, Arbeitssicherheit und Umwelt tätig ist.
Ebenfalls im gutleut verlag erschienen: verzargen | ein hölzernes alphabet [2022] sowie schwarz drosseln [2017].
Armin Steigenberger, geboren 1965 in Nürnberg, lebt in München. Dichter, Literaturkritiker, Ex-Architekt, schreibt vorwiegend Lyrik, verfasst Theaterstücke und veröffentlichte einen Roman. Als Mitherausgeber der Literaturzeitschrift außer.dem und Mitglied der Autorengruppe Reimfrei organisiert er die neue Lesereihe außer.der reihe sowie bei Radio Lora München 92,4 das poesie[magazin].weiterlesen