Engineering-IT Standardisierung im Systems Engineering der frühen Phase zur Befähigung kollaborativer Geschäftsprozesse im Automobilbau
Produktform: Buch
Zusammenfassung
Die Digitalisierung industrieller Wertschöpfungsnetzwerke in Verbindung mit der zunehmenden
Nutzung des Internets stellen die Informations- und Kommunikationstechnologie
(IKT) von Unternehmen vor neue Herausforderungen. Ansätze im Kontext Industrie 4.0,
des Internets der Dinge und Dienste, bzw. allumfassend gesprochen, des Industrial Internets
haben eine ganzheitliche digitale Unterstützung betrieblicher Geschäftsprozesse über
den gesamten Lebenszyklus von Systemen zum Ziel [Ei15-1], [BZV15]. Als Systems Lifecycle
Management (SysLM) wird die Ausgestaltung dieser Perspektive bezeichnet. Der Ansatz
integriert bestehende Konzepte des Product Lifecycle Managements (PLM) und baut
auf einem umfassenden Systemgedanken auf [ERZ14]. SysLM nimmt Einfluss auf Prozesse,
Methoden sowie die Organisation von Unternehmen und wirkt sich insbesondere auf
die frühe Phase der Systementwicklung aus. Prozesse und IT-Werkzeuge der Disziplinen
im Engineering gilt es zu harmonisieren und in einen gemeinsamen Rahmen zu überführen.
Einen wesentlichen Stellenwert nehmen hierbei interdisziplinäre Entwicklungsansätze sowie
die Schaffung durchgängiger Prozessketten auf Basis von Engineering-IT Standards
ein.
Die Brisanz der zu gewährleistenden Interoperabilität über heterogene System- und Wertschöpfungsnetzwerke
hinaus ist Entscheidungsträgern aus Industrie, Politik und Forschung
bekannt. Zertifizierungsinitiativen wie bspw. der Code of PLM Openness (CPO), ein Kodex
für Offenheit und Interoperabilität zwischen IT-Systemen, initiiert von Herstellern der Automobil-,
Aerospace- und Zuliefererindustrie, wird derzeit unter der Schirmherrschaft des
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geführt [Se16-1]. Auch bedeutende
Forschungsallianzen wie die Plattform Industrie 4.0 adressieren Themen der Standardisierung
und rufen Arbeitsgruppen, als auch strategische Standardisierungsmaßnahmen ins
Leben [PI4.0]. Gefordert wird die Entwicklung eines prägnanten Sets an interdisziplinären
Standards, das praxisnah, auf Basis von Anwendungsfällen von Seiten der Industrie implementiert
werden kann [DIN15], [BZV15], [VDI15]. Dessen Entstehung soll gremienbasiert,
mithilfe offener Prozesse erfolgen. Unternehmen werden aufgefordert, sich aktiv daran zu
beteiligen. Allerdings fehlen bislang konkrete Herangehensweisen, wie sich Initiativen der
Industrie miteinbringen lassen und Standards im Unternehmen langfristig etabliert werden
können. Die Doktorarbeit stellt hierfür einen Ansatz, für die strategische Setzung von Engineering-
IT Standards bereit.
Grundsätzlich baut das Konzept auf drei Kernbausteinen auf: die Standard-Entwicklung, -
Organisation und -Steuerung. In einem ersten Schritt erfolgt dazu die Darlegung unterschiedlicher
Ausprägungsformen von Engineering-IT Standards. So lassen sich diese in
Modellierungs-, Datenformat- und Integrationsstandards einteilen. Was die Engineering-IT
Standardisierung betrifft, liegen ihnen unterschiedliche Paradigmen der Standard-Setzung
zugrunde. Wohingegen Modellierungsstandards für die einheitliche Beschreibung komplexer
Systeme verwendet werden, ermöglichen Datenformatstandards einen Austausch von
Informationen über Unternehmen hinweg. Integrationsstandards unterstützen darüber hinaus
firmeninterne Kollaborationsszenarien mittels der Verlinkung entsprechender Artefakte.
Die Entwicklung von Engineering-IT Standards findet schrittweise unter der Erzielung unterschiedlicher
Reifegrade statt. So wird im Rahmen des ersten Bausteins ein Phasenmodell
für die Entwicklung von Engineering-IT Standards konzipiert. Die industrielle Durchdringung
von Standards kann damit identifiziert und mittels einer Quality Gate orientierten
Herangehensweise vorangetrieben werden. Zentrale Meilensteine entlang des Lebenszyklus
ermöglichen es zudem, verschiedene Standardisierungsaktivitäten für Unternehmen zu
identifizieren. Auch stellen organisatorische Aspekte einen wesentlichen Mehrwert für die
Standard-Setzung dar. So wird im darauffolgenden Teil der Doktorarbeit ein betriebliches
Organisationsmodell für die Operationalisierung von Engineering-IT Standards entwickelt.
Sowohl betriebsinterne, als auch -externe Faktoren werden darin integriert. Insbesondere
können konkrete Stellenprofile, auf Basis von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten
(AKVs) ableitet werden. Was unternehmensexterne Rahmenfaktoren betrifft, ließen
sich Organisationsstrukturen für den Aufbau externer Gremien erheben. Im Zuge des letzten
Bausteins wird die Steuerung von Engineering-IT Standards forciert. Ein ganzheitlicher
Ansatz für das Management von Engineering-IT Standards wird dazu, auf Grundlage konkreter
Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen skizziert. Gezielt soll es Unternehmen ermöglicht
werden, Standardsetzungsvorhaben aus betriebswirtschaftlicher Sicht messen
und fortschreiben zu können. Die Engineering-IT Standardisierung wird dabei als Instrument
des strategischen Geschäftsprozessmanagements verwendet. Betriebliche Ziele lassen
sich so, mittels einer Engineering-IT Standardisierung verbinden. Eine unternehmerische
Zielfunktion wird in diesem Zusammenhang formuliert. Sie umfasst dabei vier zentrale
Komponenten: Positionierungsdiagramm, Standard-Heuristik, Strategie-Portfolio und Balanced
Scorecard (BSC). Diese werden im Einzelnen ausgeführt und im Rahmen des Anwendungsteils
implementiert.
Im Zuge der Anwendung wird eine auf Fallbeispielen beruhende Realisierung angewandt.
Kollaborativer Geschäftsprozesse im Systems Engineering gilt es dabei zu befähigen. Im
Speziellen wird die frühe Phase der Systementwicklung beleuchtet, da ihr ein hohes Potenzial
für die Optimierung von Geschäftsprozessen obliegt. Die Doktorarbeit baut auf Implementierungen
aus Sicht eines Fahrzeugherstellers (OEM = Original Equipment Manufacturer)
auf. Gremienarbeiten erfolgten deshalb in Zusammenarbeit mit dem ProSTEP iViP
Verein (PSI). Es gelang dadurch Use Cases von Engineering-IT Standards mit Standardisierungspartnern
abzuleiten. Drei der synthetisierten Use Cases werden im Rahmen der
Doktorarbeit diskutiert: System Design Validation, System Design Clarification, Stakeholder
Request Clarification. Sie zielen auf einen kollaborativen Entwurf mechatronischer Systeme
zwischen OEM und Entwicklungspartner ab.
Das Requirements Interchange Format (ReqIF), als auch die Systems Modeling Language
(SysML) der Object Management Group (OMG) liegen im Fokus. So lassen sich die beiden
Engineering-IT Standards innerhalb der erarbeiteten Use Cases integrieren. Für den Datenformatstandard
ReqIF wurde eine inhaltliche Standardisierung (Content Harmonization)
realisiert. Eine initiale ReqIF Attribute Liste konnte in diesem Zusammenhang herausgearbeitet
werden. Was den Modellierungsstandard SysML betrifft, gelang es erste Szenarien
für den kollaborativen Entwurf mechatronischer Systemumfänge zwischen OEM und Entwicklungspartnern
zu beschreiben. Der Einsatz eines Begleit-Prinzips wird dazu verwendet,
um mechatronische Systemarchitekturen in Zukunft übertragen zu können.
Ergebnisse und Folgerungen zeigen dabei, dass zukünftig mit einer Prozessumstellung und
Systemneugestaltung zu rechnen ist. Eine Rückverlagerung von Wertschöpfungsschritten
findet von Entwicklungspartnern hin zum OEM statt. Eine strategische Geschäftsmodelländerung
wird dadurch induziert. So forcieren OEMs, wieder im Besitz von mechatronischen
Systemarchitekturen zu sein. Grund dafür ist der zunehmende Wissens- und Kompetenzabfluss
bzgl. der Software- und Elektrik/Elektronik-Entwicklung. Anstelle horizontal aufbauender
Beschaffungsketten, wird eine vertikale Aufteilung von mechatronischen Systemumfängen
erfolgen. Fahrzeugherstellern wird dadurch die Möglichkeit gegeben, Gesamtsystemarchitekturen
zu planen und zu koordinieren. Bisherige Kooperationsmodelle werden
sich im Zuge dessen verändern. Ein Datenaustauschformat für die Übertragung mechatronischer
Systemarchitekturen wird deshalb benötigt. Die im Rahmen dieser Arbeit gegebenen
Ansätze können dazu verwendet werden, um dies in Zukunft zu realisieren. Hohe
Potenziale bzgl. der Vernetzung mechatronischer Systeme werden dadurch für den OEM
freigesetzt. Komplexe, miteinander verbundene Systeme lassen sich infolgedessen verwirklichen.
Die strategische Setzung von Engineering-IT Standards kann dies unterstützen.weiterlesen