Entwicklung eines Verkehrssicherheitsprogramms für Radfahrende zwischen 11 und 14 Jahren mit dem Fokus auf metakognitiven Fähigkeiten
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Im Jahr 2019 verunglückten ca. 29.000 Kinder (bis 15 Jahre) im Straßenverkehr in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2020). Die Jahrgänge mit den meisten Unfallopfern sind dabei die 11- bis 14-Jährigen, von denen wiederum etwa die Hälfte (ca. 6.000 Kinder) mit dem Fahrrad verunglückte. Die Zahl der verunglückten Radfahrer steigt nach dem Wechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule stark an. Dies ist auf ein geändertes Fahrverhalten nach dem Schulwechsel im Vergleich zur Grundschulzeit zurückzuführen. Viele Schüler beginnen nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule mit dem Rad zur Schule zu fahren. Weiterhin treten mit Beginn der Pubertät umfangreiche Verhaltensänderungen ein, wodurch z.B. die Risikobereitschaft (insbesondere durch Selbstüberschätzung) im Straßenverkehr zunimmt (Limbourg et al. 2000). Bisher existieren allerdings keine flächendeckenden Maßnahmen zur Radverkehrserziehung in der Sekundarstufe I. Zur Förderung der Verkehrssicherheit in dieser besonders auffälligen Gruppe der 11- bis 14-jährigen Radfahrenden besteht daher besonderer Forschungsbedarf. Diese Lücke soll mit der vorliegenden Dissertation geschlossen werden. Das Ziel der Dissertation ist die Entwicklung eines Verkehrssicherheitsprogramms für die besonders gefährdete Zielgruppe der 11 bis 14-Jährigen Radfahrer, das auf Beobachtungsverfahren, Selbstreflexion und Eigenverantwortung basiert. Die Entwicklung des Programms wird in dieser Arbeit dokumentiert und die verkehrlichen Wirkungen des Programms in einem Pilotversuch an zwei Schulen erhoben und evaluiert. Das Programm wurde so konzipiert, dass es in den Schulen der Sekundarstufe I universell einsetzbar ist. Ferner entsteht mit dieser Arbeit eine Datenbasis über kritisches Fahrverhalten (insbesondere bewusstes Fehlverhalten) der 11 bis 14-Jährigen Radfahrer. Damit soll die zukünftige Verkehrserziehung unterstützt werden, indem Verhaltensdaten erhoben werden, die über die reinen Unfallzahlen und –berichte hinausgehen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Unfälle nur einen Teil kritischen Verhaltens abbilden können, weil einerseits viele Verhaltensweisen unerkannt bleiben, die zu keinem Unfall geführt haben (u.a. Beinahe-Unfälle) und bezüglich des Unfallgeschehens eine hohe Dunkelziffer vorliegt, insbesondere bei Alleinunfällen. Um die praktische Anwendung und die Übertragbarkeit zu demonstrieren, wurde der theoretisch entwickelte Ansatz an zwei unterschiedlichen Schulen in einem Modellversuch erprobt.
Der erste Teil der Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung eines gegenüber dem Unfall alternativen Bewertungskriteriums, mit der sicherheitskritisches Verhalten gemessen und in unterschiedlichen Situationen verglichen werden kann. Dazu werden Verkehrskonflikte und Fahrfehler als Bewertungsgröße betrachtet und ein Beobachtungsverfahren entworfen, das auf der Verkehrskonflikttechnik basiert. Dieses Verfahren wird dabei auf den Radverkehr und die Zielgruppe unter Beachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben adaptiert. Mit diesem Beobachtungsverfahren wird das Fahrverhalten der Zielgruppe im Ist-Zustand erhoben, um häufiger auftretende Fahrfehler ermitteln zu können. Dazu fanden entsprechende Vorher-Erhebungen mittels Videobeobachtung statt. Die Vorher-Erhebungen geben einen Überblick über das Fahrverhalten der Altersgruppe. Weiterhin dienen die Erhebungen als Grundlage für die Wirkungsuntersuchungen des Programms. In den Vorher-Erhebungen wurden verschiedene Verkehrssituationen betrachtet, wie sie jedem Kind auf dem täglichen Schulweg begegnen können. Dazu zählen zum Beispiel das Abbiegen an einer gleichrangigen Kreuzung, das Überqueren einer vielbefahrenen Straße oder die Nutzung eines Fußgängerüberweges. Alle zur Altersgruppe zugeordneten Radfahrer wurden in allen Situationen bzgl. selbst verursachter Fahrfehler und Verkehrskonflikte untersucht. Dafür wurden zuvor unterschiedliche Arten von Fehlern definiert, zum Beispiel Gespräche während der Fahrt, mangelndes Umschauen oder unangepasste Geschwindigkeit. Im nächsten Schritt werden verschiedene pädagogische Ansätze in der Verkehrserziehung und existierende Verkehrssicherheitsprogramme im In- und Ausland analysiert. Für den Erfolg eines Verkehrssicherheitsprogramms spielt die darin verwendete Methodik und der pädagogische Ansatz eine entscheidende Rolle. Dabei wird festgestellt, dass es nicht nur auf die Wissensvermittlung, sondern auf dauerhafte Verhaltensänderungen ankommt. Nur dann können verkehrspädagogische Ansätze erfolgreich sein. Weiterhin ist eine zielgruppengerechte Gestaltung notwendig, denn die Auseinandersetzung mit dem Thema geschieht nur dann, wenn der Lerninhalt zugänglich ist und verstanden werden kann, um was es geht. Dabei muss es nicht immer ein „richtiges“ Verhalten geben, auch Alternativen zu erwünschten Verhaltensweisen können akzeptiert werden. Eine akzeptierte „Anti-Haltung“ in einer Thematik kann sich positiv auf die Beeinflussungsmöglichkeit in allen anderen Bereichen auswirken, da die Jugendlichen sich eher verstanden fühlen und somit offener für Verhaltensbeeinflussung werden. Wenn in Schulen direkte verkehrspädagogische Ziele angesprochen werden, spüren Jugendliche häufig den „erhobenen Zeigefinger” der Erwachsenen und lehnen diese Art der Verhaltensbeeinflussung ab. Um dem entgegen zu wirken, werden zwei wesentliche Lehrtechniken im Verkehrssicherheitsprogramm verwendet: Die Spiegelmethode im Verkehr (engl.: „mirroring method in transportation“), die von Koivisto und Mikkonen (1997) beschrieben wurde, sowie die Coaching Technik im Verkehr, die Edwards (2011) entwickelt hat. Beide Methoden wurden ursprünglich für den Pkw-Verkehr konzipiert und wurden in dieser Arbeit auf die Bedürfnisse von 11- bis 14-jährigen Radfahrern angepasst. Das grundlegende Ziel des Verkehrssicherheitsprogramms ist, das Bewusstsein der Schüler für Gefahrenwahrnehmung beim Radfahren schärfen, was zu einem erhöhten Sicherheitsempfinden führt. Um dies zu erreichen, besteht das Programm aus den grundlegenden Säulen Beobachtung, Selbstreflexion und Eigenverantwortung. Nach der Teilnahme am Programm wird erwartet, dass die Schüler u.a. ihr eigenes Verhalten kritischer einschätzen. Es wird davon ausgegangen, dass die Schüler ihr eigenes Verhalten und ihre Fähigkeiten
zunächst überschätzen, dies während des Programms erkennen und ihr Fahrverhalten nun als unsicherer empfinden, als sie es zuvor eingeschätzt haben. Danach streben sie wieder ihr vorheriges Sicherheitsgefühl an und passen deswegen ihr Fahrverhalten entsprechend an. Mit diesem Verkehrssicherheitsprogramm sollen somit kurzfristig bewusste Verhaltensänderungen erreicht werden, so dass infolgedessen langfristig die Zahl der mit dem Fahrrad Verunglückten in der Zielgruppe zurückgeht. Damit einhergehen soll auch eine allgemeine Steigerung der Attraktivität des Radfahrens. Eine weitere wesentliche Anforderung ist der flächendeckende Einsatz des Programms an deutschen Schulen als dauerhaft angewendete Verkehrssicherheitsmaßnahme. Damit dies erreicht werden kann, wurde das Programm so gestaltet, dass es von den Lehrkräften selbstständig durchgeführt werden kann. Das Verkehrssicherheitsprogramm besteht aus drei Bausteinen: einer Selbsteinschätzung des eigenen Fahrverhaltens in Bezug auf Sicherheit, die Behandlung mehrerer Themenbereiche, in denen häufiger Fahrfehler und Verkehrskonflikte auftreten und einer abschließend erneuten Einschätzung des eigenen Fahrverhaltens. Das Herzstück bilden dabei die Spiegelsessions zu den verschiedenen Verkehrssituationen. Hier werden verschiedene Verkehrssituationen näher betrachtet, bei denen in Erhebungen vermehrt kritisches Verhalten festgestellt wurde. Zu Beginn jeder Session werden die Schüler gebeten, darüber nachzudenken, wie gut zum jeweiligen Thema gehörende Risikofaktoren auf sie selbst zutreffen (zum Beispiel, wie häufig sie das Handzeichen beim Abbiegen geben) und wie sie ihre Mitschüler diesbezüglich einschätzen. Weiterhin wird noch gefragt, ob der jeweilige Faktor das Unfallrisiko im Straßenverkehr erhöht oder nicht. Diese drei Fragen soll jeder Schüler zunächst für sich auf einem Arbeitsblatt beantworten. Im Anschluss sollen die Fragen in der Klasse diskutiert werden. Auf diese Weise entsteht ein erster Austausch über das Thema und eine Sensibilisierung für mögliche Risikofaktoren, ohne dabei auf konkretes Fehlverhalten (und stattdessen erwünschtes Verhalten) hinzuweisen. Nach der Diskussion über die Fragen folgt ein Video, welches das zugehörige Thema behandelt. In dieser kurzen Sequenz wird eine Situation aus dem realen Straßenverkehr gezeigt, bei der ein oder mehr Konflikte und Fahrfehler im Zusammenhang mit dem jeweiligen Thema auftreten. Dies kann zum Beispiel ein Linksabbiegevorgang sein, bei dem kein Handzeichen gegeben wurde. Die Schüler werden gebeten, ihre Beobachtungen zunächst still und selbstständig im Arbeitsblatt zu notieren. Danach erfolgt eine weitere Diskussion unter Moderation der Lehrkraft, bei der die Schüler darüber sprechen sollen, was ihnen im Video aufgefallen ist. Währenddessen sind weitere Ergänzungen im Arbeitsblatt möglich. Nach Abschluss des Hauptteils des Verkehrssicherheitsprogramms sollen die Schüler erneut ihre eigene Fahrweise in Bezug auf Verkehrssicherheit einschätzen. Dabei wird erwartet, dass sie ihr eigenes Verhalten nun als unsicherer wahrnehmen als vor Beginn des Programms. Um das alte Sicherheitsniveau wieder erreichen zu können, müssen Verhaltensanpassungen stattfinden. Das entwickelte Verkehrssicherheitsprogramm wurde im Herbst 2020 in einem Modellversuch an zwei Schulen (Wilhelmsgymnasium Kassel und Elisabeth-Selbert-Schule Zierenberg) durchgeführt. Teilgenommen haben jeweils die Hälfte der Schüler aus den Jahrgängen sechs bis neun. Die andere Hälfte des Jahrgangs (ca. 500 Schüler) durfte an diesem Versuch nicht teilnehmen, da sie die Kontrollgruppe für die sich an das Programm anschließenden Nachher-Erhebungen bildete. Insgesamt nahmen jeweils klassenweise 494 Schüler (338 am Wilhelmsgymnasium Kassel und 156 an der Elisabeth-Selbert-Schule Zierenberg) am Programm teil. Der Modellversuch fand unter der zu der Zeit in Hessen gültigen Corona-Infektionsschutzverordnung statt. Um die Netto-Effekte des Verkehrssicherheitsprogramms messen zu können, fanden nach Durchführung des Modellversuchs unter Berücksichtigung von Probandengruppe (Schüler, die am Modellversuch teilnahmen) und Kontrollgruppe (Schüler, die nicht am Modellversuch teilnahmen) erneut Verkehrsbeobachtungen in denselben Verkehrssituationen statt. In den Nachher Erhebungen beging die Probandengruppe etwa 50% weniger Verkehrskonflikte und Fahrfehler als die Kontrollgruppe, was dem entwickelten Verkehrssicherheitsprogramm eine sehr hohe kurzfristige Wirksamkeit bescheinigt. So beging die Probandengruppe 0,15 Verkehrskonflikte und 0,64 Fahrfehler pro Person und Situation, die Kontrollgruppe stattdessen 0,30 Verkehrskonflikte und 1,27 Fahrfehler pro Person und Situation. Bei der Kontrollgruppe, die das Verkehrssicherheitsprogramm nicht absolvierte, traten im Vergleich zur Vorher-Erhebung im Gegensatz zur Probandengruppe keine signifikanten Verbesserungen auf. In der Probandengruppe zeigten sich signifikant positive
Wirkungen insbesondere bei den Fahrfehlern, die in den Vorher-Erhebungen besonders häufig auftraten und entsprechend im Programm thematisiert und von den Schülern besprochen wurden. Besonders hohe positive Effekte wurden dabei bei Gesprächen während der Fahrt, am Fußgängerüberweg und der Benutzung des Gehweges auf der falschen Fahrbahnseite erzielt. Mittlere Effekte wurden beim Handzeichen und Umschauen erzielt. Mit der vorliegenden Arbeit liegt ein neues Verkehrssicherheitsprogramm für die besonders gefährdete Gruppe der 11- bis 14-jährigen Radfahrer vor. Dabei konnten auf kurzfristige Sicht sehr positive Wirkungen auf das Fahrverhalten und damit auf die Verkehrssicherheit nachgewiesen werden. Somit kann das Verkehrssicherheitsprogramm flächendeckend in der Verkehrserziehung zum Einsatz kommen. Langfristige Wirkungen liegen allerdings noch nicht vor und müssen in weiteren Untersuchungen ermittelt werden.weiterlesen
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