Kaum ein anderer Soziologe hat dem Recht und der Rechtsprechung für die Konstitution der Sozialformation „Gesellschaft“ so viel Einfluss zugeschrieben und der dafür zuständigen Wissenschaft soviel Platz eingeräumt wie Ferdinand Tönnies. Das „Dritte Buch“, das sich dieser Thematik widmet, umfasst nicht weniger als ein Viertel seines Jugend- und Hauptwerkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887).
In dem Maße, in dem sich während des Übergangs von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Lebensformen Eigentumsverhältnisse herausbildeten und von den Besitzverhältnissen ablösten, erwuchs die Notwendigkeit einer kodifizierten, verbindlichen Anspruchs- und Verpflichtungsregelung, unter anderem auch einer damit verknüpften Verrechtlichung der Erbfolge im Rahmen entsprechender Gesetzgebungsverfahren (Obligationenrecht, Familienecht etc.). Wurde das zwischenmenschliche Zusammenleben in der Sozialformation „Gemeinschaft“ noch weitgehend durch Sitte und Religion geregelt, trat in jener der „Gesellschaft“ das Recht und die öffentliche Meinung an ihre Stelle.
Tönnies hat sich nicht nur abstrakt-theoretisch mit rechtsphilosophischen Fragen etwa des Natur- und Staatsrechts befasst, sondern rechtssoziologisch auch konkret-empirisch in aktuelles Tagesgeschehen unmittelbar eingegriffen, zum Beispiel anlässlich der Novellierung des deutschen Strafrechts 1912, wobei er sich auf seine kriminal- und moralstatistischen Untersuchungen berufen konnte.weiterlesen