Flüchtlingskrise, Migrationskrise, Europakrise? Die Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf die europäischen Gesellschaften
Akten der 2. Saarbrücker Europa-Konferenz
Produktform: Buch
Mit großer Freude legen wir die Akten der 2. Saarbrücker Europa-Konferenz vor, die am 9. und 10. November 2018 vom Europa-Kolleg CEUS der Universi-tät des Saarlandes zum Thema Flüchtlingskrise, Migrationskrise, Europakrise? Die Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf die europäischen Gesellschaften organisiert wurde.
Mit renommierten Gästen aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft bietet die Saarbrücker Europa-Konferenz als internationale Plattform zur Diskussion zentraler europapolitischer Themen einen geeigneten Rahmen, um den Diskurs über Europa in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Veranstaltung, deren Akten hier vorgestellt werden sollen, war bereits die zweite dieses Formats und knüpf-te an die 1. Saarbrücker Europa-Konferenz (Europa, quo vadis? Was macht einen Europäer aus?) aus dem Jahr 2016 an. Vortragende dieser ersten Konfe-renz waren unter anderem die damalige portugiesische Innenministerin Prof. Dr. Constança Urbano de Sousa, der ehemalige Richter am Europäischen Ge-richtshof für Menschenrechte und emeritus unserer Universität Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Georg Ress sowie der damalige Europa-Gastprofessor der Universität des Saarlandes, der Spezialist für europäisches Recht Prof. Dr. Paulo Mota Pinto (Universität Coimbra), ehemaliger Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für Europäische Angelegenheiten des portugiesischen Parlaments. Die Akten der 1. Saarbrücker Europa-Konferenz sind im Herbst 2018 als erster Band der CEUS-Reihe Saarbrücker Beiträge zur Europaforschung erschienen. Der vorliegende Band ist der dritte Teil dieser Reihe.
II. Der Gegenstand der 2. Saarbrücker Europa-Konferenz war nicht nur ak-tuell, sondern auch brisant. Denn die Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre haben unsere Idee von Europa aus verschiedenen Gründen und Perspektiven auf den Prüfstand gestellt und zahlreiche Fragen aufgeworfen: Wozu verpflichten die gemeinsamen europäischen Werte? Gehört nicht das Asylrecht zu dem grundrechtlichen Kanon und daher zu den Grundeinstellungen, die unsere Iden-tität als Europäerinnen und Europäer bilden? Inwiefern sind Sorgen um eine Überlastung der Sozialsysteme berechtigt? Sind die Geflüchteten eine Chance für die Gesellschaften angesichts der demographischen Prognosen? Wie gehen wir mit dem Teil der Bevölkerungen Europas um, die auf die Migrationswelle mit der Wahl rechtspopulistischer Parteien antworten? Was bedeutet Integrati-on und wie kann, wie sollte sie gesteuert werden? Wie wird Europa durch die große Anzahl an Geflüchteten verändert? Inwieweit herrscht über die Notwen-digkeit dieser Veränderungen Einigkeit? Inwieweit wird über solche aktuellen und zukünftigen Veränderungen reflektiert? Wie verändern sich umgekehrt die Geflüchteten dadurch, dass sie in Europa leben? Wie antwortet Europa auf die Krisen in der Welt, die die Fluchtbewegungen verursachen – Ursachenbekämp-fung dort, um Perspektiven in den Herkunftsländern zu schaffen, oder Unter-stützung des ‚Absaugens‘ von jungen Männern und Frauen als billige Arbeits-kräfte aus Afrika zugunsten der europäischen Wirtschaft?
Alle diese Fragen, womit die Problematik nur im Ansatz dargestellt wird, können auf verschiedenen Ebenen analysiert und beantwortet werden. Die erste ist die juristische. Ausgehend von der banalen Feststellung, dass Asylrecht nicht mit Migrationswünschen bzw. -bedarf vermischt werden darf, wäre zuerst zu klären, wie Asylrecht im internationalen Recht, im EU-Recht und im Recht der Nationalstaaten geregelt ist. Dann muss auch das Verhältnis zwischen die-sen Regelungen zueinander untersucht werden, vor allem, wenn EU-Recht und Nationalregelungen Unterschiedliches besagen. Weitere Forschungsdesiderata betreffen die rechtshistorische Perspektive auf diesen Normenkomplex, ergänzt durch einen Rechtsvergleich zum Beispiel auch zwischen größeren Einwande-rungsländern außerhalb Europas (USA, Australien …).
Die Klärung dieser juristischen Fragen des Asylrechts ist aber nur ein Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Hinzu gesellen sich gesellschaftli-che und wirtschaftliche Dynamiken in den aufnehmenden Gesellschaften, die wissenschaftlich begleitet werden sollten. Die Skepsis vieler Menschen gegen-über Geflüchteten ist zum Teil durch die Angst verursacht, durch die Neuan-kömmlinge würden sich Konkurrenzkämpfe im unteren Segment der Gesell-schaft einstellen. Die Wirtschaftswissenschaft kann, verbunden mit soziologi-schen Perspektiven, sachliche Antworten zum voraussichtlichen wirtschaftli-chen Impact der Geflüchteten auf die europäischen Gesellschaften und die eu-ropäischen Sozialsysteme liefern.
Grundsätzlich in den Blick genommen werden müssen Fluchtursachen und Lösungsansätze zu ihrer Bekämpfung. Neben kriegerischen Auseinandersetzun-gen, die Leib und Leben bedrohen, sind oftmals mangelnde Perspektiven die Ursache für Flucht. Hierbei ist von Interesse, welche Gründe auf das Handeln der Länder selbst zurückzuführen sind (Korruption, Vetternwirtschaft, falsche ökonomische Entscheidungen, mangelnde Bildung, problematische Strukturen der Gesellschaft usw.) und welchen Anteil Europa an den Entwicklungen hat (Kolonialerbe, Überflutung der Märkte mit Waren aus Europa, Ausbeutung von Bodenschätzen etc.). Ein wichtiger Aspekt hierbei betrifft die europäische Ent-wicklungshilfe, die hinsichtlich ihrer Wirksamkeit oftmals in der Kritik steht.
Diesen Überlegungen widmete sich die 2. Saarbrücker Europa-Konferenz in drei Sektionen, nach denen auch der vorliegende Akten-Band strukturiert ist. Die Mehrzahl der Referentinnen und Referenten der Konferenz hat uns ihren Beitrag für die vorliegende Publikation zur Verfügung gestellt, wobei es ihnen freigestellt war, die Beiträge noch einmal zu aktualisieren. In zwei Fällen hatten wir die Erlaubnis, die aufgenommenen Reden zu transkribieren.
Die erste Sektion legt den Fokus auf das Flüchtlingsrecht und die Fluchtur-sachen. Der Jurist Thomas Giegerich (Universität des Saarlandes) beantwortet in seinem Beitrag „Völker- und europarechtliche Perspektiven auf Flucht: Nati-onale Egoismen – kontinentale Solidaritäten – globale Lösungen“ Fragen nach dem rechtlichen Status der Geflüchteten und bietet einen breiten Überblick über relevante Verträge und Konventionen im europäischen Flüchtlingsrecht und deren Funktionalität in der Praxis. Der Entwicklungsökonom Michael Grimm (Universität Passau) geht in seinem Beitrag „Flucht und Migration: Warum machen sich die Menschen auf den Weg?“ vor allem auf die Frage nach den Fluchtursachen ein und darauf, wie sich Fluchtbewegungen in der Zukunft ent-wickeln könnten. Er zeigt Ansätze auf, welche Möglichkeiten die Politik hat, auf Flucht- und Migrationsbewegungen sowie ihre Ursachen Einfluss auszu-üben.
Die zweite Sektion thematisiert ökonomische Analysen und Perspektiven in Bezug auf Afrika und Europa. Die Leiterin des Büros des Afrikabeauftragten der Bundeskanzlerin Christiane Kraus geht in ihrem Beitrag „Die Ziele der deutschen und europäischen Entwicklungspolitik in Afrika“ unter anderem auf zwei Initiativen zur Unterstützung afrikanischer Länder mit dem Ziel nachhal-tigen Wirtschaftswachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen ein: den „Compact with Africa“ und den „Marshall-Plan mit Afrika“. Der nigerianische Ökonom James Shikwati, als Fundamentalkritiker der herkömmlichen Ent-wicklungshilfe westlicher Länder bekannt, und die liberianische Aktivistin Saran Kaba Jones postulieren einen Strategiewechsel in der europäischen Entwicklungshilfe für Afrika: Eine erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Kontinente müsse damit beginnen, eine gleichberechtigte, auf gegenseitigem Respekt basierende Partnerschaft zu etablieren. Der Leiter des ifo Zentrums für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung Panu Poutvaa-ra analysiert in seinem Beitrag die ökonomischen Auswirkungen der Flücht-lingskrise auf europäische Arbeitsmärkte und Sozialsysteme und zeigt Mög-lichkeiten auf, wie eine erfolgreiche Integration Geflüchteter gelingen kann.
In der dritten Sektion steht der soziokulturelle Impact der Flüchtlingskrise auf die europäischen Gesellschaften im Mittelpunkt. Dabei stellt der Soziologe Ettore Recchi (Sciences Po Paris), der 2018 die Europa-Gastprofessur am CEUS innehatte, die unterschiedlichen Rechte von Menschen mit einer Unions-bürgerschaft im Vergleich zu Drittstaatsangehörigen in der Europäischen Union heraus. Der Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls „Migrations et sociétés“ am Collège de France François Héran bilanziert anhand statistischer Daten das Verhalten der europäischen Staaten in Bezug auf die Flüchtlingsfrage und ver-sucht, eine Erklärung für die Divergenzen und Spaltungen in der EU, die durch die Flüchtlingskrise zutage traten, zu finden.
III. Roland Theis, Staatssekretär für Europa und Justiz, betonte in seinem Grußwort, es könne zur Bewältigung der Flüchtlingskrise keine nationalstaatli-che Lösung geben, sondern nur eine europäische. Die Bedeutung Europas (und insbesondere der Europäischen Union) zur Bewältigung von Krisensituationen hob auch Bundesminister Peter Altmaier in seiner hier abgedruckten Ab-schluss-Keynote hervor: „Wir haben gestritten und nicht mehr geschossen. Und das ist der große Unterschied zwischen der Zeit vor der Europäischen Union und danach.“
Wir danken allen Vortragenden der Konferenz sehr herzlich für ihre Mit-wirkung. Des Weiteren gilt unser Dank der Stiftung ME Saar, der IHK des Saar-landes, der Staatskanzlei des Saarlandes, dem Justizministerium des Saarlan-des, dem Ministerium für Finanzen und Europa des Saarlandes, der ASKO EUROPA-STIFTUNG sowie der Universitätsgesellschaft für die großzügige Unterstützung der Veranstaltung. Die CEUS-Mitarbeiterin Sara Zimmermann hat den Band mit großer Umsicht und Sorgfalt lektoriert. Auch ihr danken wir sehr für ihr Engagement.
Das CEUS, ehemals Collegium Europaeum Universitatis Saraviensis (Euro-pa-Kolleg der Universität des Saarlandes), wurde 2021 durch eine teilweise neue Organisationsstruktur zum Cluster für Europaforschung der Universität des Saarlandes weiterentwickelt – die Namensänderung erlaubte es, wenn schon nicht den klassischeren Namen, so doch zumindest das Akronym CEUS beizu-behalten. Die dritte Saarbrücker Europa-Konferenz ist in diese neue Struktur eingebettet und für das Frühjahr 2022 geplant. Sie wird sich mit dem Themen-feld „Solidarität in Europa“ befassen. Wir freuen uns, somit auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag zum Diskurs über Europa zu leisten.
Saarbrücken, im Juni 2021
Prof. Dr. Dr. h. c. Tiziana J. Chiusi Anne Rennig
(Geschäftsführende Direktorin des Collegium (CEUS-Geschäftsführung)
Europaeum Universitatis Saraviensis CEUS
von 2014–2018, seit 2021 Mitglied im Colle-
gium des Clusters für Europaforschung CEUS)weiterlesen
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