GegenStandpunkt 1-23
Politische Vierteljahreszeitschrift
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Die Ukraine wird verwüstet, der Westen kämpft um eine geeignete Fortsetzung
Das zweite Kriegsjahr darf beginnen
– Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sind ungefähr so viele russische Soldaten tot oder kaputt, wie vor einem Jahr zur „militärischen Sonderoperation“ angetreten sind. Wofür? Präsident Putin erklärt es, wieder und wieder. Gleich doppelt: für die Wiederherstellung eines intakten russischen Vaterlands; und für die Sicherheit der Nation als strategische Macht gegen ihre existenzielle Bedrohung durch die NATO.
– Nach dem ersten Kriegsjahr ist die Ukraine verwüstet; einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil hat die Regierung ihrem Kampf gegen die russische Invasion geopfert. Wozu? Präsident Selenskyj erklärt es täglich in drastischster Form: Ohne standhaftes Töten und Sterben an allen Fronten gäbe es die Ukraine als selbstständigen Staat nicht mehr. Das gilt als unbedingt anzuerkennende Rechtfertigung aller Opfer, als das Nonplusultra eines gerechten Kriegsgrunds.
– Nach einem Jahr „Zeitenwende“ registriert der Westen die Kosten seines Einsatzes gegen Russland in der Ukraine: den Schaden für die Weltwirtschaft und auch fürs eigene Wirtschaftswachstum, den er organisiert hat; den absehbar langfristigen Aufwand für Waffen und die Fiktion eines ukrainischen Staatshaushalts; die Fluchtbewegung, die er managt; auch Schäden und Leichen auf ukrainischer Seite kommen vor in der Bilanz. Wofür das alles? Die Zuständigen können es gar nicht oft genug erklären: Mit der Gewalt, die sie mobilisieren, retten sie die europäische und überhaupt die globale Friedensordnung. Was für ein edler Grund! Was für ein Dokument selbstloser Verantwortlichkeit!
– Schließlich: Seit einem Jahr beteuern die Macher des Ukraine-Kriegs allesamt unablässig, dass ihre Kriegsführung resp. -beteiligung unbedingt notwendig ist. Warum? Weil die jeweils andere Seite sich in böser Absicht an dem heiligen Gut vergreift, für das man selbst in den Krieg zieht. Jeder reagiert nur auf eine nicht hinnehmbare Bedrohung, eine brutale Aggression.
Und wenn es tatsächlich so ist? Nämlich so, dass für jede Partei ihre vitalen Staatsinteressen mit denen der Gegenseite unvereinbar sind? Dass die unabdingbaren Rechte, die jede Partei ihren vitalen Interessen zuspricht, Gewalt bis zum Äußersten nicht bloß rechtfertigen, sondern fordern? Alle Gegner berufen sich auf einen Sachzwang zum Kriegseinsatz, auf ein absolut unverzichtbares Recht darauf, und offenbaren damit tatsächlich das eine: die Unvereinbarkeit der Räson, der sie als Militärmächte folgen – also von Inhalt, Sinn und Zweck dessen, was ihre Nation, ihre Weltmacht, eine ihnen gemäße Weltordnung ausmacht –, mit der entsprechenden Räson ihres Feindes.
Aus den ‚guten‘ Gründen, die die kriegswilligen Macht- und Befehlshaber für ihre Militanz geltend machen, ist auf die wirkliche Notwendigkeit des Krieges, seinen Grund in der imperialistischen Natur der engagierten Mächte zu schließen – wenn man aus den in Umlauf gebrachten Begründungen die Affirmation, aus den permanent hergebeteten guten Gründen das ‚gut‘ herausstreicht. Dann versteht man auch die überwältigend zynischen Berechnungen besser, die von den Präsidenten und Kanzlern und ihren Strategen angestellt und im Kriegsverlauf umgesetzt werden – und erspart sich falsches Verständnis wie ebenso verkehrtes Unverständnis.weiterlesen
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