Gegenwartsliteratur. Ein Germanistisches Jahrbuch /A German Studies Yearbook / 12/2013
Schwerpunkt: Peter Handke
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Inhaltsverzeichnis / Table of Contents
I. Schwerpunkt: Peter Handke
Oliver Kohns
Über das Gesetz: Zur juristischen Form bei Handke
Der Beitrag fragt nach der Bedeutung von Begriffen wie “Gesetz” und “Gerechtigkeit” in den Texten Handkes. Eine schillernde Bedeutungsfülle nimmt das Konzept des “Gesetzes” an, es verweist aber zentral — wie im Vergleich mit Stifters “sanftem Gesetz” gezeigt werden soll — auf eine ästhetische Vorstellung von Gerechtigkeit (in der Wahrnehmung und Beschreibung der Wirklichkeit). Die Lektüre von Die Stunde der wahren Empfindung (1975) und Die Wiederholung (1986) soll zeigen, dass diese Vorstellung von Gerechtigkeit — als Suche nach dem Gesetz — auch die narrative Struktur von Handkes Texten prägen kann. Die “Serbien”-Texte Handkes zeigen schließlich, dass auch die explizit politischen Interventionen des Autors im Kontext der poetologischen Vorstellung von Gesetz und Gerechtigkeit verstanden werden können.
Thorsten Carstensen
Die Geschichte zwischen Mann und Frau: Peter Handke und die Liebe
Seit der vielzitierten Wende Ende der siebziger Jahre betreibt Peter Handke eine Mythisierung von Liebe und Sexualität, die zugleich die zentralen ethischen und ästhetischen Fragestellungen seines Schreibens berührt. In den epischen Texten des Spätwerks — vom Versuch über die Müdigkeit (1989) über Don Juan (2004) bis hin zu Der Große Fall (2011) — inszeniert Handke Begegnungen zwischen Mann und Frau als Augenblicke wahrer Empfindung, in denen es zum Erlebnis einer gesteigerten Teilhabe an der Welt kommt. Hinter diesen Entgrenzungsphantasien offenbart sich jedoch eine Dialektik von Liebes- und Gewaltakt, die auf eine eklatante Unfähigkeit der männlichen Protagonisten zu wirklichen Beziehungen verweist: Stets auf der Suche nach dem “Augenpaar”, müssen sie doch allein bleiben, um das Umkippen der Vertrautheit in offene Aggression zu verhindern.
Marton Marko
“Schau, ein Indianer!”: Visions of the Native and Exotic from Handke’s Salzburg Years
Peter Handke’s years in Salzburg between 1979 and 1987 represent the longest residence of the author’s established career in his native Austria. While issues of “Heimat” and national identity become critical themes during this time, motifs of cultural otherness also pervade. A meeting point between modes of “native” and “other” is found in Handke’s use of stylized “Indian” figures and images that incorporate elements of orientalism and exoticism. In making the native strange, and strangers native, Handke’s rhetoric of cultural indeterminacy critically confronts historical modes of Austrian, as well as European, nationalism. These engagements, in turn, underpin the trajectory of a provocative discourse regarding the relationship between writer and nation during Handke’s Salzburg years.
Ulrich von Bülow
“The Philosopher’s Stone?”: Peter Handkes Spinoza-Lektüren in den Jahren 1980 und 1983
Als Peter Handke sich um 1980 der Klassik zuwandte, studierte er — wie ehedem Goethe — intensiv die Philosophie von Baruch de Spinoza. Seine Lektüren der Ethik in den Jahren 1980 und 1983 lassen sich anhand seiner größtenteils unveröffentlichten Notizbücher detailliert nachvollziehen. Handke folgt Spinozas Apotheose der räumlichen Außenwelt (deus sive natura), er übernimmt die Thesen von der Körperhaftigkeit der Vorstellungen und der prästabilierten Korrespondenz von Wort und Ding. Im Mittelpunkt seiner eingehenden Beschäftigung mit Spinozas Affektenlehre steht die Theorie der Freude. Doch während Spinoza seine Lehrsätze rational zu beweisen sucht, tritt bei Handke an die Stelle folgernder Erkenntnis programmatisch die assoziierende Einbildungskraft. Die textnahe Rekonstruktion seiner folgenreichen Auseinandersetzung mit Spinoza bezieht Handkes Erzählwerk dort ein, wo der Philosoph ausdrücklich erwähnt wird.
Alexander Honold
“Things We Said Today”: Peter Handkes Versuch über die Jukebox
Peter Handkes Versuche leiten um 1990, am Übergang von den Reisejahren zur Niederlassung in Paris, eine neue Werkphase ein, indem sie autobiographische, essayistische und erzählend-fiktionale Darstellungsweisen miteinander verflechten. Der Versuch über die Jukebox reflektiert in der Abgeschiedenheit einer spanischen Kleinstadt auf grundlegende Weise das persönliche Verhältnis Handkes zur Musik und zu ihrer populären öffentlichen Wirkung. In Bars, Cafés und Restaurants, die ein gemischtes Publikum nach der Arbeit aufsucht, ermöglicht die Jukebox eine gemeinschaftliche Erfahrung von Musik. Mit diesem Wiedergabegerät hatte in den Nachkriegsjahren die Blues- und Beatmusik Verbreitung gefunden; vor allem die Lieder der Beatles hatten sich dem Autor als Jukebox-Klänge unauslöschlich eingeprägt. Ende 1989, als in Europa sich die politischen Gewichte dramatisch verschieben, spürt Handke den letzten Exemplaren der Jukebox nach und wird zum Chronisten ihrer Ära.
Robert Halsall
“Den Nicht-Ort gibt es nicht”: Handke and the Spirit of Place in Versuch über den Stillen Ort
Handke’s concern with place has been seen as a search for a utopia, characteristic of a writer who has allegedly become increasingly ‘weltfremd’. This essay examines Handke’s most recent work, Versuch über den Stillen Ort, in the light of this critique. In this essay it is argued that Handke’s poetics of place, as exemplified in the Versuch, is rather a search for the genius loci or spirit of place. This spirit belongs not just to idyllic places far removed from civilization, but can be found in places that have been dismissed as ‘inauthentic’ or ‘non-places’—epitomized by a place associated with the lowest and most abject aspects of humanity, the toilet, which is the central poetic focus of the text.
Michaela Kopp-Marx
Auf der Suche nach dem Sinn: Peter Handkes Versuchs-Trilogie
Handkes Bekenntnis, sein Schreiben sei vor allem Selbsterforschung, ist Ausgangspunkt einer poetologischen Analyse der “Versuchs”-Trilogie (1989-91). Die offene Form des Essays erweist sich als ideales Experimentierfeld, neue Schreibformen und Erzählansätze zu erproben. Der blockhafte Notatstil und das Sehen in Bezügen und Korrespondenzen treibt eine Grundkonstante im Schreiben Handkes hervor: das Changieren zwischen Zerstreuung und Einheit, Chaos und Ordnung, Zerrissenheit und Bezogenheit. Im “Versuch über die Jukebox” (1990) liegt der Akzent auf der Vereinzelung und Dezentrierung des Wahrgenommenen, während im “Versuch über den geglückten Tag” (1991) das Streben nach Form und Zusammenhang vorherrscht. Deutlich wird: Die grundlegende Spannung zwischen lustvoller Sinnauflösung und verzweifelter Sinnsuche produziert den Riss, der Handkes Schreiben motiviert.
Christoph Parry
Fröhliche Dystopie: Utopische Züge in Peter Handkes Der Bildverlust
Handkes neuere Romane spielen oft in der Zukunft. Der Beitrag untersucht am Beispiel von Der Bildverlust, welche Eigenschaften utopischen und dystopischen Schreibens bei Handke vorkommen. Für die Utopie wie auch für die Dystopie ist die räumliche und zeitliche Isolation typisch. Beschrieben werden utopische und dystopische Gesellschaften mit einem “anthropologischen Blick”, der ähnlich wie in der Ethnographie selbst tendenziell gesellschaftliche Dynamik ausblendet und zur Stasis neigt. In Handkes Roman, der eine Reihe von dystopischen Enklaven beschreibt, wird ein ähnlicher “anthropologischer Blick” aufgespürt. Zusammen mit der Verschränkung von Erzählzeit und erzählter Zeit entsteht im Roman eine ganz eigene Zeit. Durch Handkes Reflexivität und das postmoderne Bemühen, die Fiktionalität und den Schreibprozess selbst sichtbar zu halten, werden einer rein dystopischen Lesart Grenzen gesetzt.
Rolf G. Renner
Peter Handkes Revokation der Moderne: Der Große Fall
Im späten Text des Autors führt das für Handkes Schreiben charakteristische narrative Wechselspiel von Zitat und Selbstzitat zu einer Hybridisierung des Erzählens. Einerseits werden die intertextuellen Bezüge auf andere Autoren wie auf das eigene Werk radikal transformiert und aleatorisch verwendet, andererseits begründet sich eine neue Perspektive im Werk Handkes. Das erzählerische Spiel der Referenzen lenkt den Blick auf die Zeichen einer Katastrophe. Ein poetologisches Programm, das sich am späten Goethe orientiert, und eine Denkfigur Heideggers verleihen ihm dabei Kontur. Die “Endzeit”, die der Protagonist erfährt und die seine Wahrnehmungen prägt, schildert eine gesellschaftliche, historische und mentale Konstellation, welche die Signatur der medial vermittelten modernen Welt trägt. Diese markiert zugleich die Bedingungen des Erzählens, die der Autor in seinem Text reflektiert.
II. Tendenzen
Carsten Gansel
Sprechen und (Ver)Schweigen: Kriegsdarstellung und Aufstörung bei Grass und Strittmatter
Der Beitrag zeigt in Verbindung mit Erkenntnissen der Erinnerungsforschung, der Historiographie und Narratologie, dass die in Nationalsozialismus und Krieg gemachten Primärerfahrungen zu einer Störung des Selbst führten und das Erzählen ein Weg der Bewältigung sein konnte. Am Beispiel von Günter Grass (West) und Erwin Strittmatter (Ost) wird nachgewiesen, wie und warum beide Autoren mit ihren Texten in gesellschaftlichen Teilsystemen ‘aufstörend’ wirkten. Dabei verdrängten sie ihre Primärerfahrungen und nutzten vergleichbare literarische Strategien zur Verschleierung eigener ‘Schuld’. Zu diesem Zweck wurden ‘Umweltreferenzen’ (“Realismus”) durch die Installierung von Schelmenfiguren und unzuverlässigen Erzählern (“Ästhetizismus”) sowie dem Einsatz von ‘field memories’ unterlaufen. Damit schafften die Autoren sich die Möglichkeit, mit ‘verstellter’ Stimme von Eigenem zu sprechen, retuschierten ‘blinde Flecken’ oder entwarfen eine Art Wunschbiografie.
John Pizer
Kleist in and out of the Grave: Fontane, Grass, and Dagmar Leupold
Heinrich von Kleist appears as an active protagonist in a number of German-language author-as-character texts. Both Günter Grass’s Ein weites Feld and Dagmar Leupold’s Die Helligkeit der Nacht focus attention on the deceased Kleist. Grass’s novel features Theodor Fontane as the Double of the central character, Theodor Wuttke; however, Wuttke’s visit to Kleist’s grave serves as the impetus to his climactic speech against the Treuhand agency, and, by extension, against Germany’s reunification. In Leupold’s novel Kleist is a ghost whose creative power literally writes the deceased revolutionary Ulrike Meinhof into poetic existence. Both works draw on Kleist’s spirit as a way to examine the political and social ambience of late twentieth and early twenty-first century Germany.
Anna Seidl
Karten und Kartenbilder im Werk von W.G. Sebald
Karten sind neben den vielbesprochenen Fotografien ein integraler Bestandteil von W.G. Sebalds Werk. Sie tauchen bereits in frühen Texten auf und erreichen in seinem letzten Werk zahlen- und bedeutungsmäßig einen Höhepunkt. Ihre formale und inhaltliche Bedeutung ist eng mit seiner Raumpoesie verbunden, die sich im Spannungsfeld von Bewegung und Stillstand, Imagination und Epistemologie entfaltet. Es lassen sich äußere und innere Karten unterscheiden, die den Text organisieren und als Kartenbilder eine visuelle Sinnerzeugung anregen. Diese Funktionen können mit de Certeaus Raumkategorien carte und parcours näher bestimmt werden. Karten haben bei Sebald nicht nur eine kulturhistorische Bedeutung (‘homo cosmographus’), sondern lassen eine kreative und neuartige Mischung von Realität und Fiktionalität entstehen, die besonders für sein Geschichtsverständnis und seinen Erinnerungsdiskurs von Bedeutung sind.
Hannelore Mundt
From Erdkunde to Kaltenburg: Marcel Beyer’s Never-ending Stories about the Past
Reading Marcel Beyer’s cycle of poems Erdkunde and his novel Kaltenburg as polyphonous texts that draw from a cornucopia of historical and literary voices about Germany’s Nazi past, shows how both works, here identified as historiographic metafiction, simultaneously problematize and embrace historiography, memory, and fiction as carriers of history, while rejecting the notion of a collective master narrative. In addition, an examination of common themes and topics in the texts, such as the life and (false) memory of Konrad Lorenz, reveals how Beyer presents his own act of (re)writing the past as a continuous process that confirms, yet challenges historiographic indeterminacy, thereby turning the past into a never-ending story.weiterlesen
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