»Wissenschaft ist das, was anerkannte Wissenschaftler als Wissenschaft anerkennen.« Konnte sich Odo Marquard Mitte der 1980er Jahre noch der breiten Anerkennung seines Plädoyers für die Unbestimmbarkeit und für die Unersetzlichkeit wissenschaftlichen Wissens sicher sein, erscheint Wissenschaft heute nicht wenigen nur mehr als gesellschaftliche Institution wie andere auch – und ihr Wissen wie ein Angebot zur lebensweltlichen Orientierung unter vielen. Dass moderne Gesellschaften in wissenschaftliche Institutionen und Programme investieren, mag im Sonderauftrag des Wissenschaftsbetriebs gründen, jenes »gewagte Wissen« (Plessner) bereitzustellen, das gedankenspielerische, zunächst unpraktisch anmutende und für manche durchaus beunruhigend unabgeschlossene Zugänge zu allem eröffnet und offenhält, was gesellschaftlich als wirklich, wirklichkeitsmöglich oder wirklichkeitsrelevant erscheinen kann. Doch entgegen diesem tradierten Ideal von Wissenschaft im kategorischen Konjunktiv kann sich moderne Wissenschaft immer weniger unabhängig wähnen und muss die Freiheit des akademischen Feldes vor weitreichenden gesellschaftlichen Ansprüchen oder politischen Vereinnahmungsversuchen schützen.
Die Beiträge des Bandes erörtern die Bedingungen, unter denen sich Wissenschaft – nicht zuletzt unter den Vorzeichen der jüngsten Debatten um Klimawandel, Pandemie und Migration, um Cancel Culture, Digitalisierung und Anthropozän – zunehmend mit Ansprüchen gesteigerter Einfachheit, Evidenz und Anwendbarkeit konfrontiert sieht. Sie diskutieren die Folgen einer Entwicklung, in der unterschiedliche Wissenschaftsverständnisse und verschiedene Vorstellungen vom Verhältnis zwischen akademischen und alltagspragmatischen Deutungs- und Handlungspraktiken zusehends in verschärfte Konkurrenz zueinander rücken.weiterlesen