Glaubhaftigkeit und Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen unter Einbeziehung entwicklungspsychologischer Aspekte
Produktform: Buch
Spätestens seit den Wormser Missbrauchsprozessen in den Neunziger Jah¬ren weiß man um die Bedeutung kindlicher Zeugenaussagen. Damals hatten fehlerhafte Glaubhaftigkeitsgutachten dazu geführt, dass 24 mut¬maßlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagte Männer und Frauen letztendlich doch freigesprochen wurden. „Die familienübergrei¬fenden Massenmissbrauchshandlungen fanden nicht statt“, hatte der Vor¬sitzende Richter im Urteil klargestellt und kam zum Ergebnis, dass die Kinder Opfer derer wurden, die es gut gemeint und schlecht gemacht haben. Gemeint sind Sachverständige, Kinderärzte, Psychologen, Staats¬anwälte und Ermittlungsrichter, die mit Ihren Untersuchungen und Ver¬nehmungen vermeintliche Straftaten entdeckten, die de facto nie geschehen waren. Ein Gutachten zeigte damals auf, dass die Aussagen der Kinder durch die vielen Befragungen unbewusst manipuliert worden waren.
Gerade bei Straftaten nach §§ 176, 176a, 176b StGB ist die Stimmung im Umfeld von Ermittlungen aufgeheizt und eine sachlich-nüchterne Aufklä¬rung dieser Straftaten nicht immer einfach. Charakteristisch ist dabei die Intimität der Tatsituation: Kinder sind bei derartigen Straftaten die einzigen Zeugen. Allein von ihrer Aussage und der der Angeklagten hängt ein ent¬sprechendes Urteil ab. „Von den ersten Vernehmungen hängt also geradezu die ganze Zukunft des Prozesses ab: In ihnen wird eigentlich fast immer der Sachverhalt endgültig geklärt oder endgültig verschleiert“. Diese Aus¬sage von William Stern in seinem Werk „Jugendliche Zeugen in Sittlich¬keitsprozessen, ihre Behandlung und psychologische Begutachtung“ (1926, S. 47) bringt zum Ausdruck, dass in frühen Phasen der Ermittlungsarbeit die Weichen für den Erfolg oder Misserfolg eines Verfahrens gestellt wer¬den. Denn gerade hier – das haben die Erfahrungen der Wormser Miss¬brauchsprozesse gezeigt – ist die Gefahr der Beeinflussung der Kinder durch suggestives Befragen am größten.
Entscheidend bleibt die Frage, ob ein Kind nun die Wahrheit sagt oder nicht. Anke Regber gibt in ihrer Arbeit zahlreiche Hinweise zur Glaubhaf¬tigkeitsbeurteilung von kindlichen Zeugenaussagen hinsichtlich entwick¬lungspsychologischer Aspekte. Auch die Ausführungen der Autorin zum Problem der Suggestibilität von Kindern machen die vorliegende Arbeit zu einem wertvollen Begleitbuch für die polizeiliche Praxis. Es eignet sich dabei trotz des expliziten Bezugs auf kindliche Zeugenaussagen desglei¬chen für Praktiker, die vornehmlich mit Vernehmungen von Erwachsenen zu tun haben.
Mit der Lektüre dieser Arbeit verbindet die Autorin die Hoffnung, dass die Integrierung entwicklungspsychologischer Aspekte in die polizeiliche Ver¬nehmungslehre dazu führen könnte, dass der Beamte mehr Verständnis für die Eigenart des kindlichen Denkens, Handelns und Erlebens entwickelt. Letztendlich geht es darum, das vom Kind Erlebte möglichst wirklichkeits¬getreu zu erfassen. Denn der Fall Worms zeigt: selbst bei Freispruch sind die Angeklagten für den Rest ihres Lebens stigmatisiert. Und die Leidtra¬genden sind am Ende doch die Kinder.
1. Einleitung
2. Geschichtliche Aspekte
2.1 Zeugeneignung von Kindern im Wandel der Zeit
2.2 Geschichte der gerichtlichen Sachverständigentätigkeit
3. Die psychologische Begutachtung
3.1 Der psychologische Sachverstand als Beweismittel (Möglichkeiten und Grenzen)
3.2 Anlass und Häufigkeit der Begutachtung von Kindern
3.3 Der Stellenwert der Begutachtung
3.4 Ein Überblick zu den aussagepsychologischen Konstrukten
4. Zeugeneignung von Kindern aus entwicklungspsychologischer Sicht
4.1 Aussage- bzw. Zeugentüchtigkeit
4.2 Kinder verschiedener Alterstufen als Zeugen
5. Die Glaubhaftigkeit einer Aussage
5.1 Differenzierung zwischen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit
5.2 Bedeutung für Praxis
5.3 Differenzierung zwischen Glaubhaftigkeit und Aussagegenauigkeit
5.4 Unterschiede zwischen erlebnisbegründeten und unwahren Aussagen
5.5 Motivbezogene Aspekte beim Kind
5.6 Hinweise für die polizeiliche Praxis
6. Das Problem der Suggestibilität
6.1 Begriffsbestimmung
6.2 Das Werk von William Stern
6.3 Allgemeine Ausführungen zum Suggestionsprozess
6.4 Bedingungen für das Auftreten von Suggestionseffekten
6.5 Differenzierung zwischen wahren und suggerierten Aussagen
6.6 Suggestibilität und Alter des Kindes
6.7 Einfluss von Zeitpunkt und Häufigkeit der Präsentation falscher Informationen
6.8 Hinweise für die polizeiliche Praxis
7. Fazitweiterlesen