Global Citizen ART Project
Xenia Marita Riebe
Produktform: Buch
Global Citizen. Figuren der Welt.
Mit Abschluss der Arbeiten am Projekt Global Citizen stehen weit mehr als 200 Figuren aus Zeitungspappmache auf den aus Metall geschnittenen Grundrissen der Erdteilen. Fast überall drängen sie sich ganz dicht aneinander. In Europa, Asien und Ozeanien. Auf den Weiten Russlands ist es nur eine einzige. Die kleinere Figuren strecken ihre dünnen Arme nach oben, so als wollten sie auf sich aufmerksam machen, freundlich, winkend, eventuell aber auch hilferufend, wehklagend. Es sind jene, die für die Kinder der Welt stehen. Man würde sie sonst vielleicht übersehen. So aber treten sie heraus. Die größeren freilich, Männer und Frauen, Väter und Mütter, stehen nur da. Ohne Regung. Als hätten sie die Beweglichkeit der Jugend verloren. Von den Zeitungen ummantelt, bleiben sie stumm. Einander ähnlich, doch niemals bis ins Detail gleich. Sie stehen da, inmitten der Massen, und doch allein. Global Citizen ist ein Kunstprojekt von großer Klarheit.
Begonnen hatte es während einer Bahnreise, als Xenia Marita Riebe gegenüber einem Mann saß, der eine Zeitung las, deren Papier nicht den sonst üblichen schmutzig graugelben Ton hatte, sondern farbig war. Zeitungen sind ein besonderes Medium. Im Zeitalter der Virtualität eigentlich anachronistisch weil immer zu spät, werden sie dennoch gern zitiert und noch lieber benutzt, um Ideen zu verbreiten oder Gerüchte zu platzieren. Es gibt sogar Auszeichnungen für ein besonders gelungenes Zeitungsdesign. Einigen Zeitungen ist das Bild wichtiger, als das gedruckte Wort. Ihnen geht es weniger um Inhalt und Information, als um Meinung. Andere hingegen halten an Traditionen wie der Frakturschrift fest, wohl in der Annahme, es diente dem Eindruck der Seriosität. Zwar ist nicht alles, was in Zeitungen steht, die Wahrheit, aber jede Zeitung ist für sich genommen ehrlich. Es kommt auf die Interessen dahinter an, den Zwecken, denen sie dient. Doch egal welchen Charakter Zeitungen besitzen, sie funktionieren überall auf der Welt nach demselben Prinzip: Die einzelne Seite muss ein Bild sein. Kein Mensch liest eine Zeitung, in der die Informationen wirr durcheinander stehen, ohne Ordnung, ohne Halt. Es ist tatsächlich wie bei einem Regal im Supermarkt. Schon erstaunlich, wie manipulierbar der Leser ist.
Anfangs war auch die Künstlerin vor allem vom ästhetischen Potential fasziniert. Herstellung und Wirkung der Zeitungen sind ja überall weitgehend gleich. Was sie so verschieden, so individuell macht, ist nun einmal die Grafik, die Schrift, sind die Zeilenfolgen, die Bilder. Zuerst entstanden Tierpaare aus Zeitungspappmache. Dass die dann aus den Zeitungen der Länder geformt wurden, in denen sie tatsächlich lebten, ergab sich nahezu zwangsläufig. Von hier war es für die Künstlerin, die in ihren Arbeiten schon früher den Konflikt zwischen Mensch und industriellem Fortschritt thematisiert hat, nur noch ein kleiner Schritt hin zur Idee der Global Citizen.
Die Figuren entstehen immer auf die gleiche Art und Weise. Grundstoffe sind Zeitungspapier und Leim. Geformt wird mit den Händen, eigentlich zwischen den Fingern, fast intim, so wie man auch mit Ton arbeiten würde. Nicht zuletzt darauf gründet sich ihre Ähnlichkeit. Vielleicht, dass die ersten etwas einfacher gearbeitet waren. Doch im Wesentlichen unterscheidet die Figuren nur die letzte Lage Zeitungspapier. Dann nämlich wird eine Ausgabe des Landes verarbeitet, das die Figur symbolisch repräsentieren soll. Was so als Haut verarbeitet wird, ist nur bedingt ausgesucht. Natürlich sollten es Ausrisse sein, die ein Thema der Innenpolitik, der kulturellen Identität oder anderer, landestypischer Inhalte kommentieren. Aber wer kann eine arabische oder chinesische oder eine Zeitung aus Afrika im Original lesen? So kamen immer wieder auch Bilder ins Spiel, von Persönlichkeiten des Landes, Gesichter der Einwohner. Tatsächlich ist es gar nicht wichtig, zu wissen, was auf den Zeitungsausrissen gedruckt steht. Die Idee wird auch so sehr schnell deutlich.
Global Citizen ist ein Kunstprojekt von ebenso großer Klarheit wie Komplexität. Es besagt zum einen, der einzige Platz, der dem Menschen zur Verfügung steht, auf dem und von dem er lebt, den er ausbeutet und herausfordert, über den er verfügt und den zu schützen er doch eigentlich angehalten sein müsste, ist die Erde. Es wird für die Zukunft und die Zukünftigen darauf ankommen, wie er heute mit dieser immensen Verantwortung umgeht. Im Kern jedoch widmet sich Global Citizen dem Recht auf Verschiedenheit in der Welt, auf dass das Ungleichzeitige gleichzeitig geschehen kann. Darf. Muss. Zugespitzter: Das Projekt ist ein Appell für eine Globalisierung, durch die die Vielfalt bewahrt und nicht verloren wird.
Die Zeitung ist dasjenige Medium in der modernen Informationsgesellschaft, dass die Wahrheit über den Zustand der Welt selbst dann anzuprangern vermag, wenn sie sie aufgrund von Zensur oder Restriktion eigentlich verschweigt. Man nennt das dann zwischen den Zeilen lesen. Auch bei Xenia Marita Riebes Projekt Global Citizen sollte der Betrachter zwischen den Zeilen lesen. Er wird weit mehr über sich und seine Nachbarn auf der Erde erfahren, als auf den ersten Blick lesbar scheint. Denn die Körpersprache der Figuren, die der Kinder wie der Erwachsenen, lässt sich vielfach deuten.
Stefan Skowron
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