Grenzen des Wissens – Wissen um Grenzen
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Allgemein anerkanntes Wissen in der Moderne zeichnet
sich durch säkulare Rationalität aus; die Institution zur
Klärung konfligierender Wissensansprüche ist die Wissenschaft.
Die Vormoderne war zwar keineswegs irrational
oder arational, doch sie ließ zu und forderte meist auch,
dass menschliche Rationalität an göttliche Offenbarung
oder eine andere Form transzendenter Gewissheit anknüpfte.
Moderne Wissenschaft, so der weitgehende
Konsens in der aktuellen Wissenschaftsgeschichte, beginnt
'ca. 1800' und wird im Englischen als Übergang
von 'natural philosophy' zu 'science' beschrieben.
Die frühere Verortung der 'scientific revolution' im 17.
Jahrhundert wird dagegen als retrospektive Sinn- und
Traditionsstiftung durch die Wissenschaftshistoriker der
Ersten Moderne verstanden: Was wir heute als 'Wissenschaft
' verstehen, ist erst mit der Moderne entstanden,
also historisch kontingent und kein Ausdruck invarianter
Wahrheitsbedingungen.
Während der Glaube seine Pluralisierung in Form von
Religionen bereits in den Konfessionskriegen wie in der
Entdeckung außereuropäischer Formen des Glaubens
durchgemacht und der Moderne dabei auf den Weg geholfen
hatte, begann die Wissenschaft mit dem erneuten Anspruch
auf einheitliche Wege zur Erkenntnis. Das bislang
von der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft
bearbeitete Problem gemeinschaftlicher Kontingenzbewältigung
war mit konfessioneller Pluralisierung und aufklärerischer
Religionskritik nicht verschwunden, sondern
eher heimatlos geworden. Die verlorene eine Wahrheit
entstand in der Wissenschaft neu. Positivismus und Naturalismus
der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts
wurden zum Programm der Verwissenschaftlichung der
Welt, dem sich die anderen Disziplinen der vormodernen
Gelehrsamkeit wie auch neu entstehende Disziplinen anzupassen
suchten. Es beginnt die Karriere des zunächst
affirmativ verstandenen Szientismus und seiner Rückzugsgefechte
im Laufe des 20. Jahrhunderts.
Die in der Frühen Neuzeit verloren gegangene Einheit
des Glaubens entsteht in der Moderne als säkulare Religion
der Wissenschaftlichkeit mit Fokussierung auf die
Materialität des irdischen Lebens wieder neu. Das Ausscheiden
des Transzendenten aus den universell verbindlichen
Formen der Selbstorganisation der Gesellschaft,
der 'gesperrte Gott' in den Worten Bruno Latours, ist der
erste große Rationalisierungserfolg der Moderne. Doch
die Hoffnungen auf eine 'einheitliche Weltanschauung'
aus dem Geist wissenschaftlicher Weltauffassung erfüllen
sich nicht.
Die reflexive Modernisierung des Wissens gibt die fundamentalistische
Überforderung wissenschaftlicher Klärungsmonopole
auf und sucht – darin weiter modern –
nach empirisch überprüfbaren und in anderer, möglichst
komplementärer Weise ebenso unvermeidlich unvollkommenen
Formen nichtwissenschaftlichen Wissens. An die
Stelle des 'alles oder nichts' eines erstmodernen Monismus
und seiner postmodernen Spiegelung tritt das reflexiv
moderne 'sowohl-als-auch' der Aushandlung nicht mehr
überforderter aber gleichwohl in ihren jeweiligen Grenzen
anerkannter Wissensansprüche unterschiedlicher Provenienz.
Zwar gibt es nach wie vor den Streit um das richtige
Maß beim Einsatz der verschiedenen Wissensformen,
doch aus der Verzeitlichung der totalen Verwissenschaftlichung
wurde deren Suspendierung. Wo Wissenschaft
immer deutlicher ihre eigenen prinzipiellen Grenzen
aufgezeigt hat, liegen auch die prinzipiellen Grenzen
verwissenschaftlichter Technik. Der Versuch, das szientistische
Programm trotz der immer präziseren und in immer
weitere Bereiche der Naturwissenschaften vordringenden
Identifikation der Grenzen wissenschaftlichen Wissens
beizubehalten, nimmt vor allem im letzten Drittel des
20. Jahrhunderts zunehmend fundamentalistische Züge
an. Doch es geht vielmehr darum – und deshalb ist es
sinnvoll von reflexiver Modernisierung zu sprechen –, die
verschiedenen Wissensformen, unter denen wissenschaftliches
Wissen nach wie vor eine hervorragende Position
einnimmt, nach ihren jeweiligen Reichweiten zu verwenden,
um – nach wie vor essentiell modern – ein Optimum
an Wissen mobilisieren zu können.
Reflexiv an dieser Strategie ist, dass sie keine ideologischen
Entscheidungen über prinzipielle Überlegenheiten
trifft, sondern angesichts der prinzipiell anerkannten
Unvollständigkeit und Unsicherheit aller Wissensformen
einen nur diskursiv herbeizuführenden Anwendungskompromiss
sucht. Konkurrenz der Wissensformen in der
reflexiven Moderne ist – ganz modern – Leistungskonkurrenz
und nicht mehr (unreflektierte) Glaubenskonkurrenz.
Das heißt auch, dass keine Wissensform in einer
Umkehrung des erstmodernen Monismus 'an die Stelle'
einer anderen tritt; sie treten nebeneinander und müssen
sich so bewähren.
Das stellt die fachdisziplinären wie die gesellschaftlichen
Diskurse vor bislang – in der Ersten Moderne qua
Verweis auf den verantwortungsentlastenden 'Stand der
Wissenschaft' – sorgsam vermiedene Herausforderungen.
Wir stehen vermutlich erst am Anfang einer solcherart
provozierten neuen Unordnung der Diskurse, in denen,
um Heinz von Foerster zu paraphrasieren, entschieden
werden muss, was nicht entschieden werden kann.
Das – je nach Perspektive – Dilemma oder die Chance
des Pluralismus reproduziert sich in der Wissens- und
Wissenschaftstheorie, die seit über 2000 Jahren vergeblich
versucht, eine konsistente und einvernehmliche
Position zu entwickeln. Gesellschaftlich virulent wurde
dieses früher eher akademische Problem mit der säkularen
Rationalisierung in der Moderne, in der ohne Rekurs auf
eine höhere Vernunft die Bedingungen wahrer Aussagen
als Voraussetzung für vernünftige Entscheidungen festgestellt
werden mussten. Die Hoffnung oder der Glaube der
Ersten Moderne, dass diese Bedingungen invariant seien
und darum formale Verfahren zur Herbeiführung wahrer
Urteile möglich sind, mussten im Zuge der Repragmatisierung
und Rehistorisierung der Philosophie im späten 20.
Jahrhundert weitgehend aufgegeben werden.weiterlesen
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