Ha.M.Let 2.0
Schakespeare im Schaufenster
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Prolog
Das Schaufenster leuchtete in einem unruhigen frühherbstlichen Dämmerlicht.
Es war der letzte Tag der Sommerferien, ziemlich spät dieses
Jahr, und der Sommer hatte endgültig die Segel gestrichen.
Es war purer Zufall, dass Ozan und Lilith heute Abend diese
Gasse genommen hatten. Und wäre die Elster nicht gewesen, die
mit heftigen Schnabelhieben den schmalen Lüftungsschlitz bearbeitete,
um an ein schmackhaft gefülltes Schneckenhaus zu gelangen,
hätte Oz wohl nie einen Blick in das Fenster geworfen.
Es war eines von diesen riesigen bogenförmigen Fenstern, die
zwischen schwarzweißem Fachwerk hingen, wo früher einmal ein
Scheunentor gewesen war. Von denen gab es viele in der Stadt.
Dieses hier war aber irgendwie anders.
Vielleicht lag das an der tristen Deko, die aus verwelkten Weihnachtssternen,
verstaubten Plastiktannen und kitschigen Holzfiguren
bestand. Oben im halbkreisförmigen Glasausschnitt funzelte
eine altersschwache Lichterkette. Jemand hatte nach dem letzten
Weihnachtsfest wohl das Abschmücken vergessen.
Überhaupt müsste man hier mal richtig aufräumen, dachte Oz
und ließ den Blick durch den Laden schweifen. Bei den ausgestellten
Geschenkartikeln hatte ein Tornado Dekorateur gespielt. Es
sah aus wie im Zimmer seines kleinen Bruders.
Wer hatte Lust, in so einem Chaos etwas zu kaufen?
Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder aufs Schaufenster.
Den meisten Platz nahm darin ein uraltes Apothekerschränkchen
ein, in dessen Fächern und lädierten Schubladen nicht nur
Tiegel, Fläschchen und Kräuterbündel lagen, sondern zerfledderte
Bücher, Tintenfässchen mit Federkielen und eine halbgefüllte Teetasse
Sah es nicht sogar so aus, als wenn sie dampfte?
Vor dem Schränkchen stand ein hölzerner Lehnstuhl mit gemütlich
aussehendem, nicht mehr ganz weißem Schaffell. Darin
saß eine schon in die Jahre gekommene Schaufensterpuppe mit
wächsernem Gesicht. Jemand hatte ihr einen mittelalterlichen Federhut
über die Ohren und einen struppigen Bart um die ausgezehrten Wangen
gehangen.
Lilith stupste Oz an. Die Elster zerrte immer noch verbissen an
dem Schneckenhaus im Lüftungsschlitz. Mit einem Mal verharrte
der Vogel, legte den Kopf schief und lauschte der Stimme, die aus
dem Schlitz drang. Sie klang rau und unheimlich und nicht nur
Lilith, die sonst immer einen frechen Spruch auf Lager hatte, stellten
sich die Nackenhärchen auf:
„Ist das ein Dolch, was ich da vor mir seh,
Den Griff zu meiner Hand? Komm, lass dich packen: –
Und dir an Griff und Klinge Blut, das tropft,
Das tropft, das tropft. Mord schleicht verstohenen Schritts
Auf Zehenspitzen an sein grausig Werk
Wie ein Gespenst. – Da! Dong! Horch! Dong! Die Glocke!
Hörst du sie nicht? – Sie klingt wie Totenklang
Ruft dich zum Himmels- oder Höllengang!“
Die Elster zerrte endlich das heiß ersehnte Schneckenhaus aus
dem Schlitz. Die Lüftungsklappe schloss sich mit metallischem
Scheppern, die Stimme erstarb.
Oz und Lilith richteten die bleichen Gesichter auf die Schaufensterpuppe,
die plötzlich zu geisterhaftem Leben erwachte, mit
der Faust gegen das Glas pochte und einen blutverschmierten
Dolch ins weichende Abendlicht reckte.
Panisch ergriff Lilith Ozʼ Hand und riss ihn mit sich fort. Oz
folgte ihremW illen allzu gerne.
Sie flüchteten ins schützende Grau der Nachbargasse.
Keiner sah das flüchtige Grinsen im wachsbleichen Gesicht der
Puppe, bevor sie sich erschöpft in den Lehnstuhl fallen ließ.weiterlesen
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