Das Zeichnen begleitete den Bildhauer, Maler, Grafiker und Zeichner Helmut Ammann (1907-2001) ein Leben lang. „Nulla dies sine linea contemplativa“, keinen Tag ohne vertiefendes Zeichnen zu verbringen, war für ihn eine Notwendigkeit. So erfasste er auch „anonyme Zeitgenossen“, Menschen, denen er zufällig in der Bahn, im Café, bei Vorträgen begegnete, mit Stil und kleinem Zeichenblock. Man spürt die tiefe Neugierde und Empathie, das einfühlende Beobachten und den Respekt, mit dem der Künstler dem Anderen begegnet. Der Typ, die Haltung, der Gestus des in den Blick Genommenen bestimmten die Stricharten. Manche Typen schienen nur über die Karikatur zugänglich.
Das Zeichnen und das Gezeichnete intensivieren den Blick und lassen uns Dinge wahrnehmen, die vorher verborgen waren: Es geht darum, die geistige Beweglichkeit, die Spontaneität, das Wesen des Porträtierten zu erfassen, die charakteristische Formensprache des Gesichts, die sich als „Vielgestalt“, etwa im Spiel zwischen Auge und Mund, in Beziehungsformen ausdrückt. Sie sind nicht greifbar und nicht fassbar, aber vorhanden und spürbar.
Über 5000 Zeichnungen anonymer Zeitgenossen sind erhalten, etwa 300 wurden thematisch für diesen Band ausgewählt. Sie gewähren einen Blick in die 1960er bis 1980er Jahre, in eine andere Zeit mit anderen Frisuren, anderer Kleidung, anderen Gewohnheiten, eine Zeit ohne Tablet und Handy. So wird der Zeichner Helmut Ammann auch zu einem empfindsamen Seismographen seiner Zeit, zu einem Beobachter, der uns einen großen Bilderbogen an Menschengesichtern hinterlassen hat.weiterlesen