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IN DER FALLE.

Leben und Poesie vor und nach der Wende. Mit 20 Grafiken von Ines Arnemann und einem Vorwort von Dietrich Scholze.

Produktform: Buch

Der sorbische Lyriker Benedikt Dyrlich wurde am 21. April 1950 als zweites von sechs Kindern eines Kleinbauern, Tischlers und Holzschnitzers in der Oberlausitz geboren. Die Mutter – eine Trachtenträgerin – starb, als der Junge 16 Jahre alt war. Das heimatliche Neudörfel/Nowa Wjeska bei Kamenz hat die Berliner Schriftstellerin Gisela Kraft nach einem Besuch am Ende der achtziger Jahre so beschrieben: „Dein Dörfel, liebe DDR. Grüne Wiesen, ziemlich fl ach. Saubere Häuser jüngerer Bauart. Nichts unter Denkmalschutz. Dafür vor dem Anwesen der Dyrlichs ein Kapellchen, eine Schürzenlänge im Quadrat, mit schmucker bunter Madonna und frischen Schnittblumen. Der Bach, der durchs Dorf fl ießt, heißt Klosterwasser.“ Nach der Grundschule wurde Dyrlich ab Herbst 1964 Zögling des Bischöfl ichen Vorseminars in Schöneiche bei Berlin. Von 1968 bis 1970 studierte er in Erfurt katholische Theologie und legte die erste Hauptprüfung ab. Danach arbeitete er als Krankenpfl eger. 1973 heiratete er die Bautzener sorbische Lehrerin und Journalistin Monika Rozowski. Anschließend war er dramaturgischer Mitarbeiter am Deutsch-Sorbischen Volkstheater, von 1975 bis 1980 studierte er in Leipzig Theaterwissenschaft. Danach war er am Bautzener Mehrsparten haus als Dramaturg, später auch als Regisseur und Leiter des Kinder- und Jugendtheaters tätig. Dyrlichs erstes Gedicht, ein Marienlied, wurde 1967 von der sorbischen konfessionellen Wochenschrift gedruckt, sein erster Band, „Zelene hubki“ (Grüne Küsse), erschien 1975 im Domowina-Verlag Bautzen. 1977 war er in der richtungweisenden Anthologie junger Autoren „Kusk wuznaca“ (Ein Stück Bekenntnis) vertreten. Inzwischen liegen etwa 15 Gedichtsammlungen vor, überwiegend in obersorbischer, vier in deutscher Sprache. Hinzu kommen zahlreiche Übersetzungen, vor allem ins Polnische, Tschechische, Slowakische, Serbische, Ukrainische und Russische. Schon den Debütanten Benedikt Dyrlich trieb stets die eine Unruhe („Kleines lyrisches Bekenntnis“, 1973): das Verlangen, die Welt zu erkennen und die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Diesen Namen wollte er in zweierlei sprachlicher Gestalt fi xieren: auf Sorbisch und auf Deutsch. Das literarische Erbe von Männern wie Augustinus, Novalis, Rilke oder Hermann Hesse regte ihn an, sich mit der sorbischen zugleich die deutsche Kultur zu erschließen. Ab 1968 gehörte der Theologiestudent zur Gruppe junger Lyriker beim Arbeitskreis sorbischer Schriftsteller im Schriftstellerverband der DDR, die der bekannte Dichter Kito Lorenc betreute. Dyrlichs kurze, reimlose Gedichte aus jener Phase waren Ausdruck der Suche nach einem eigenen literarischen Weltverständnis. Dabei empfand er die besondere Geschichte, Folklore und Mythologie, die sich mit dem Prädikat sorbisch verband, anfangs durchaus als schwierig. In der einheitlichen sozialistischen Schule war dem traditionell erzogenen Sorben erläutert worden, was Traditionspfl ege sei oder die Aneignung von Traditionen ausmacht: Ostereiermalen, Hochzeitsbräuche, alte Lieder, Hexenbrennen und Geschichten von Krabat, dem Zauberer („Von der Suche nach der poetischen Heimat“,1980). Gegen eine offenkundig kontrollierte und manipulierte Wirklichkeit musste sich das – noch ungefestigte – lyrische Ich daher energisch behaupten: Ich bleibe da, wo / mich diese Welt am wütendsten zerreißt („Entwurf eines Gedichts“, 1975). Wie schon die frühen Gedichte bewiesen, verspürte Dyrlich seit jeher das Bedürfnis, den Alltag zu überschreiten. Den jähen Wendungen in seiner Biografi e verdankte er vielschichtige Erfahrungen aus den verschiedensten Bereichen. Die Legenden seiner Heimat wurden zum Lößboden, auf dem poetische Metaphern mit universeller Bedeutung gediehen. Die Widersprüche zwischen dem sorbisch- katholischen Bauerndorf und der preußisch-deutschen Großstadt Berlin, zwischen der gewohnten Nähe zur Natur und der erlebten sozialen Entfremdung lieferten ergiebiges Material zur Refl exion. Dyr lich verarbeitete es nicht zu dem geforderten Realismus in den Formen des Lebens selbst, sondern bot – anstelle schlichter Widerspiegelung – subjektive Interpretationen der Realität. Einige formale Techniken sah er sich bei Klassikern der sorbischen, deutschen und ausländischen Literatur ab, anfangs besonders bei den Polen. Diese Weltoffenheit gab zugleich dem latenten Misstrauen des Sicherheitsdienstes Nahrung. Etwa ab 1980 trat Benedikt Dyrlich – für viele überraschend – in die Fußstapfen großer Vorgänger, die ihr oberstes Ziel in der Weckung und Wahrung nationalen Bewusstseins bei den Lausitzer Sorben gefunden hatten. Wie Jakub Bart-Cišinski, Jan Skala oder Jurij Chežka stellte er die suggestive Macht der Poesie in den Dienst an seinem kleinen slawischen Volk, dessen Kräfte infolge Assimilation allmählich schwanden. 1986 gab der Bautzener Verlag – eine Zäsur im Schaffen – Benedikt Dyrlichs vierten sorbischsprachigen Auswahlband heraus: „W paslach“ (In der Falle). Der Untertitel verriet die Neuerung: Gedichte und lyrische Prosa. Die drei voraufgegangenen Sammlungen waren, ebenso wie der deutsche Erstling „Grüne Küsse“ (Aufbau-Verlag Berlin, 1980), reine Gedichtbände gewesen. Mit den zwölf eingestreuten Prosaskizzen hatte der Mitübersetzer des Alten Testaments (ins moderne Obersorbisch) nun – die vierzig im Blick – ein Genre gewonnen, das seine Ausdrucksmöglichkeiten signifi kant erweiterte. Die 28 Texte des Bandes waren, auch wo sie die Gedichtform beibehielten, relativ umfangreich. Das Feld des 20. Jahrhunderts wurde auf den historischen Prozess hin ausgedehnt, um über kulturelle und nationale Konfl ikte, über die Gefährdungen in Sein und Zeit neu nach- denken zu können. Es schien, als hätte der Lyriker damit den Schritt von der Beobachtung zur Tat getan. Bestimmend wurde ein Duktus von Überredung, Mahnung, Appell, eine Neigung zu Publizistik und Essayistik. Nach der Wende wurde Dyrlich übrigens Chefredakteur der seit 1920 bestehenden obersorbischen Tageszeitung. Die Urversion von „W paslach“, die kaum 100 Seiten umfasste, war eine Reaktion auf die bedrohlichen äußeren Umstände. Namentlich in der lyrischen Prosa näherte sich der Autor Themen wie Krieg – Faschismus – Tod, den Grenzen ökonomischen Wachstums, den Folgen der Hochrüstung (so im Text „In der Falle“ (1984) selbst) oder der Naturzerstörung. In dem Liebesgedicht „FKK hinter B.“ (1983), das scheinbar an einen sorglosen Sommertag erinnert, werden zwei Gefahren gleichzeitig ins Bild gebannt: Waffengebrauch und Umweltschäden. Während das lyrische Ich sich mit einer Partnerin sonnt, gewahrt es den Kirchturm des benachbarten Dorfes als Startrampe, Auf der sich eine Rakete zum hoffentlich / Friedlichen Flug fi ngerlang / In den Himmel stiehlt. Wird hier – 1983 in der DDR – die Einsicht in die Notwendigkeit noch zugestanden (hoffentlich friedlich), so bleibt die Sehnsucht nach schwimmen: unbeschwert bereits unerfüllt: Das Was ser des Stausees ist wegen eingeleiteter Chemikalien von Abermillionen Algenickerchen / Oder weiß Gott welchen Giftzähnchen hoffnungslos verunreinigt. Das öffentliche Gespür für Umweltrisiken – insbesondere im Kontext der Braunkohleförderung – ist im Osten Deutschlands gerade durch sorbische Schriftsteller wie Jurij Koch, Kito Lorenc oder Róža Domašcyna nachweislich geschärft worden. Der längste und auffälligste Beitrag jenes Bändchens von 1986 war die Vision in lyrischer Prosa mit dem Titel „Angst vor dem Erblinden“ (1985/89). Sie bedeutete seinerzeit auch eine subtile Kritik an den vorherrschenden Sprachregelungen im Staat der Einheitspartei, einen Protest gegen das politische Klischee und die Nivellierung durch Massenkultur. So entstand eine höchst assoziative, durch Binnenreime, Anaphern und Assonanzen ineinander verfl ochtene Textstruktur, bei der zuallererst das Spiel mit der Sprache fasziniert. Doch es ist kein Spiel an sich, kein Selbstzweck. Der pilgersmann, das literarische Subjekt, steht in der Pfl icht zu verhindern, dass es zum ewigen feierabend des lichts kommt. Das inzwischen mehrfach veröffentlichte Prosastück war ein ehrgeiziger Versuch, Zuversicht zu säen in Dichters Lande, zu wirken tat um tat. Ein Versuch, anzuschreiben gegen eben jene Angst vor dem Erblinden, gegen die Angst vor dem Untergang (der Falle). Und für den Rest Hoffnung. Das Schreiben von Gedichten und kurzer Prosa als Aktion genügte Benedikt Dyrlich mit den Jahren immer weniger. Der literarische Betrieb schien für die Kritik an der Gesellschaft nicht mehr ausreichend. Die erste Anregung zum kulturpolitischen Handeln holte er sich aus dem Ausland. Nach dem Vorbild des Puschkin-Festivals in Moskau und Michailowskoje, veranstaltet und leitet er seit 1979 – zunächst auf der Ostroer Schanze, einem Naturdenkmal im sorbischen Siedlungsgebiet – das jährliche internationale „Fest der sorbischen Poesie“ (2013 zum 35. Mal). Für die Zeitung „Nowa doba“ übertrug und kommentierte er über Jahre moderne Weltlyrik, im Domowina- Verlag gab er einige Gedichtsammlungen aus dem nationalen Erbe heraus. Und er verhielt sich bewusst oppositionell: Er verfasste kritische Gedichte. Er trat nicht in die herrschende Partei ein. Er lehnte die staatlich verordnete Jugendweihe für die beiden Söhne ab. Er pfl egte grenzüberschreitende Kontakte, ohne darüber Meldung zu erstatten. Denn in solcherart Nichthandeln äußerte sich in der späten DDR die Ablehnung des Systems. Gleich nach der Wende von 1989/90 machte sich der Schriftsteller stark für die pluralistische Demokratie. Er engagierte sich Ende 1989 in der basisdemokratischen Sorbischen Volksversammlung, im Mai 1990 trat er der SPD bei. Gestützt auf eine starke soziale Organisation, auf eine traditionsreiche Volkspartei, schien ihm das Ringen um die Sicherung sorbischer Interessen aussichtsreicher. Er missbilligte als Erster öffentlich die drohende Abbaggerung des ostsächsischen Dorfes Klitten/Kletno (mit Erfolg), er sprach sich im Februar 1990 (erfolglos) für die Rettung des brandenburgischen Ortes Horno/ Rogow vor der Braunkohle aus. Er übernahm den Vorsitz des SPDUnterbezirks Oberlausitz. Im Herbst 1990 wurde er für vier Jahre in den Sächsischen Landtag gewählt, wo er sich für Grund- und Minderheitenrechte, für unabhängige Medien und eine verträgliche Industriepolitik einsetzte. Als kultur- und medienpolitischer Sprecher seiner Fraktion wurde er Anfang 1994 ins Schattenkabinett einer möglichen sozialdemokratischen Regierung für Sachsen eingereiht; doch im Herbst schied er aus dem Landtag aus. Von 1995 bis 2011 war er Chefredakteur der unabhängigen obersorbischen Tageszeitung „Serbske Nowiny“, seit 1996 hat er den Vorsitz des Sorbischen Künstlerbunds mit über 100 Mitgliedern inne. Benedikt Dyrlich zählt zu den einfl ussreichsten sorbischen Schriftstellern und Publizisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hat mit seinem literarischen Werk der Kultur der slawischen Minderheit dauerhafte Impulse verliehen, sein Name erscheint in sorbischen wie in deutschen Lyrikanthologien unserer Zeit. Freilich, Erfolge und Misserfolge in der praktisch-politischen Tätigkeit halten sich die Waage. Enttäuschungen und Erfolge, die sich bei einer aktiven Aneignung der Wirklichkeit gemeinhin abwechseln, verwandelt Dyrlich in Verse „vor und nach der Wende“. Die beiden Sprach- und Kulturwelten, die ihm dabei als Bezugsrahmen zur Verfügung stehen, verdoppeln gleichsam die persönliche Bilanz. weiterlesen

Dieser Artikel gehört zu den folgenden Serien

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-86356-083-6 / 978-3863560836 / 9783863560836

Verlag: Pop, Traian

Erscheinungsdatum: 21.02.2014

Seiten: 162

Auflage: 1

Illustriert von Ines Arnemann
Vorwort von Scholze Dietrich
Autor(en): Benedikt Dyrlich

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