»Wimpernbegrenzt hat die Schneckenwanderung der Sonne ihre tägliche Wanderung durchs Provisorium bereits begonnen, ihren täglichen Marsch; sie kriecht am Waschbecken hoch und sammelt sich nach etwa einer Stunde in dem geschliffenen Glastropfen, der absichtlich an dieser bestimmten Stelle hängt, damit er Regenbogenflecken macht. Es ist wie Glockenläuten.
Zeichen für Tageszeiten, Punkte.
Wenn es regnet, weiß man hier nicht, wie spät es ist.«
Mit ihrem Buch in melanin, ihr bereits dritter Gedichtband, setzt die Münchener Autorin Katharina Kohm, geboren in Frankfurt am Main, die Reihe licht fort, mittlerweile Band 08 der zuletzt hinzugekommenen zweiten Lyrikreihe des gutleut verlags.
Neben dem [partiell] titelgebenden Hauptgedicht vereint der Band in zwei Zyklen, Bogenwechsel und Wandschirm, Gedichte aus den letzten Jahren. Dies beschreibt die Autorin wie folgt: »Die Arbeit am Manuskript ist mit einem Neuanfang verknüpft, mit Ausloten von Vor- und Nachleben, Wehen auf einer Schwelle. Das Konturieren eines Lebensabschnitts, der die Schwelle zweier Lebensmodi bildet, manifestiert sich in einem Prozess des Vor- und Rückgreifens. Der Zyklus, der aus zweien besteht, setzt sich dezidiert mit der Frage der Erinnerung, mit dem Fingergedächtnis, dem Körpergedächtnis auseinander und befragt von da aus Orientierungspunkte, Sprache als Körperkartografie. Erinnerung als dunkle Flecken, aufeinander bezogen.«
Sprache als Gedächtnis erscheint hier als zentrales Vexiermoment der Zyklen, die an dem Gedicht Erinnerung in Melanin im Band gespiegelt werden. Der Bau von Körper und Gedicht, eine Auslotung des sprachlichen Ausdrucks mit Architektur, Malerei, fernöstlicher Philosophie und Biologie bilden dabei die poetologischen Kernelemente der Zyklen. Die Haltbarmachung und gleichzeitig der Unfall, die zwangsläufige Bruchkante, Kippmoment und Dunkelheit werden im Leberfleck pointiert, der bleibt, aber der auch Unheimliches, nämlich potentielles Wuchern bedeutet. Dieser Ambiguität sind Gedicht und Körper gleichfalls ausgesetzt und geben in seiner Farbe dem Band seinen Namen.
»Der Ton badet im Wasser, der Bogen ist wie ein Krug im Tempel unter der Decke der Erinnerung, des Gedächtnisses, dem Zentralbau mit der Laterne als Kronleuchter.
Oben an der hölzernen Decke blüht das Gedächtnis durch Vibration der wiederholten Töne, die durch drei oder mehr Jahrhunderte hindurchgegangen sind. Die Denkkuppel, die Schädeldecke des Pavillons wird darunter schwanger, fruchtbar. Die Luft darin scheint dicker. Ich zahle keine Preise, ich bin anwesend. Das, was ich suche, finde ich im Klang und im Wasser, immer: ich treffe mich jenseits der Uhr. Es gibt keine Hälfte von 365.«weiterlesen