Jahrbuch der Psychoanalyse / Band 79: Probleme der Gegenübertragung
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Ursula Ostendorf: Identifizierung und Konzeptualisierung – ein schwieriges wie notwendiges Wechselspiel von intuitivem Fühlen und zuordnendem Verstehen:
Zwei kontrovers erscheinende Prozesse, Identifizierung und Konzeptualisierung, werden in ihrem Zusammenwirken charakterisiert. Die Arbeit im psychoanalytischen Prozess, die Meltzer mit der hilfreichen Metapher des Musikers umschreibt, der sich in seinem Spiel verliert und sich zugleich in der Tiefe seines Geistes auf sein virtuoses Können verlässt, kann unter dem Druck von projektiver Identifizierung erschwert werden. Detailliertes klinisches Material zeichnet diesen Prozess nach.
Victor Sedlak: Der analytische Prozess und die »Ich-Ideale« des Analytikers:
Dieser Beitrag untersucht die Auswirkungen der »Ich-Ideale« des Psychoanalytikers auf den analytischen Prozess. Der Autor beschreibt die Geschichte des Konzepts des Ich-Ideals und schlägt vor, dass der Analytiker einen Konflikt zwischen einem psychoanalytischen »Ich-Ideal« und einem reparativen »Ich-Ideal« bewältigen muss. Es wird über die unbewusste Motivation des Analytikers, klinische Arbeit zu verrichten, und die Identifikationen, die sich der Analytiker in seiner Entwicklung aneignet, nachgedacht. Die klinische Bedeutung dieser Überlegungen wird anhand von Beispielen veranschaulicht.
Jutta Gutwinski-Jeggle: Pathologische subjektive Überzeugungen: Über Funktion und Wirksamkeit bewusster und unbewusster Phantasien:
Anhand einer Fallgeschichte, in der es um eine subjektive Mißkonzeption geht im Sinne einer pathologischen Überzeugung des Patienten, die seine Lebensqualität massiv einschränkte, wird die Hypothese aufgestellt, dass die negative Selbstzuschreibung, die auf einer realen, bewussten Erfahrung während der Schulzeit beruht, als Abwehr unbewusster frühkindlicher emotionaler Mangelerfahrungen und Zusammenbrüche zu verstehen ist, durch die das Wiedererleben damals erlittener traumatischer Zustände vermieden werden soll. Frühe, unerträgliche, unbegreifliche, kaum repräsentierte Zustände wurden abgespalten, umgeschrieben und in der alles abschirmenden Konstruktion der pathologischen Überzeugung dumm zu sein fixiert. Im analytischen Prozess wird erarbeitet und gezeigt, wie es allmählich gelingt, vor allem anhand eines bedeutungsvollen Traumes (im Sinne von Quinodoz’ »dreams that turn over a page«), emotionalen Zugang zu den abgespaltenen Schichten zu gewinnen und ein Durcharbeiten zu ermöglichen, in das sich auch die Analytikerin unweigerlich mit hineinziehen lässt und so die Qualen des Patienten in der Gegenübertragung selbst durchleiden muss, bis es zu einem zunehmenden Verständnis und zu Transformationen des unbewussten Geschehens kommen kann. In einem theoretischen Exkurs wird der konzeptuelle Kontext entfaltet, der den Verstehenshintergrund für die klinische Arbeit mit beeinflusst hat.
Bernd Nissen: Es ist keine Schande zu hinken ... Zum psychoanalytischen Verstehen und Nichtverstehen:
Veränderungsprozesse im Psychischen können als Aufhebungsprozesse konzeptualisiert werden. Solche Aufhebungen bedürfen aber der Interpunktion im Präsenzmoment, in dem eine Wirklichkeit da ist, um zu werden. Unrepräsentierte Zustände, also z. B. Halluzinationen, aktual Traumatisches oder Formen von Zusammenbrüchen, sind ohne Verbindung zu einer Wortvorstellung und finden erst ihren Namen im Präsenzmoment. Es wird ein klinisches Beispiel vorgestellt, das nicht, wie sonst üblich, nachträglich mit gesichertem Wissen bearbeitet wurde, sondern auf dem aktuellen Wissensstand diskutiert wird – eine Konzeptualisierung in statu nascendi: Eine Symptomatik, die als milde Perversion gelten kann, aber auch als unrepräsentiertes Material, Halluzination oder Aktuales begriffen werden könnte. Auch wird die Frage gestellt, ob es Zusammenbrüche im Ödipalen geben kann.
Hermann Erb: Konzeptualisieren als ein fortwährend stattfindender Prozess – Über das Verflochtensein von Wahrnehmen, Deuten und Konzeptualisieren:
Konzeptualisieren ist nach Auffassung des Autors ein komplexer, sich in vielen kleinen Schritten vollziehender Prozess, der von der unmittelbaren und nur teilweise bewusst werdenden Konzeptualisierung einer momentanen Situation in der Stunde über das spätere Nachdenken über die Abfolge in den Stunden bis hin zu langdauernden Reflexionsprozessen über scheinbar ganz unauffällige Übertragungs- Gegenübertragungs-Konstellationen reicht. Dies wird an Vignetten aus einem Erstinterview und der sich daran anschließenden analytischen Behandlung dargelegt, wobei auch einige der zugrundeliegenden psychoanalytischen Konzepte deutlich werden.
Claudia Thußbas: Veränderungen psychoanalytisch verstehen:
In dem Beitrag werden Begriffe wie »Synchronisierung«, »Selbstwirksamkeit« sowie »Wiederholungszwang« zur Beschreibung eines Behandlungsprozesses herangezogen. Zur Konzeptualisierung besonderer Stunden, die im analytischen Prozess zu Wendepunkten werden können, wird darüber hinaus die Idee des »Moments der Begegnung« aufgegriffen. Die Begriffe werden abwechselnd konzeptuell dargestellt und zur Prozessbeschreibung einer hochfrequenten Psychoanalyse angewendet. Mit diesem Vorgehen soll ihre Passung für das psychoanalytische Verstehen von Veränderungen an dem ausgewählten Einzelfall überprüft werden. Ihr Vorteil ist, dass sie sowohl die Abbildung bewusster wie unbewusster Prozesse erlauben. Außerdem beinhalten sie eine Zeitdimension, die für die Prozessbeschreibung erforderlich ist.
Marilia Aisenstein: Konzeptualisierungen in der Psychoanalyse – Destruktivität und Masochismus, klinische Fragen und theoretische Herausforderungen:
Um darzustellen, dass die Psychoanalyse zum Verständnis klinischer Fakten Theorien und verschiedene Ebenen der Konzeptualisierung benötigt, stellt die Autorin zwei klinische Fälle dar, die von innerer Destruktivität geprägt sind und zum Tode führen. Sie bezieht sich auf Freuds Theorien zu Destruktivität, Masochismus und Todestrieb, die sie durch Kommentare von André Green und Pierre Marty vertieft, und verweist auf aktuelle immunologische Studien.
Eva Schmid-Gloor: Melancholie und »entliehenes Schuldgefühl«:
Die Autorin bringt das Konzept ›entliehener Schuldgefühle‹ in Verbindung mit Reflexionen über Melancholie und über Zusammenhänge zwischen Melancholie und Zusammenbruch, welche U. May, B. Nissen und J. Press im Jahrbuch der Psychoanalyse diskutiert haben. ›Entliehene Schuldgefühle‹ können als zur melancholischen Abwehrbastion gehörig verstanden werden und entsprechen einem illusorischen ›Heilungsversuch‹, wie ihn Press in der Melancholie sieht. Ein Fallbeispiel illustriert, wie ›entliehene Schuldgefühle‹ in einer traumatisch wirkenden Interaktion mit dem Objekt entstehen, wenn Schmerz und Enttäuschung nicht integriert werden können. ›Entliehene Schuld‹ wird als phantasmatischer Prozess einer Inkorporation verstanden und vom Integrationsprozess einer Introjektion unterschieden. Inkorporation entspricht einem phantasierten Versuch, die Wunde eines Verlustes imaginär zu verdecken, während Introjektion mit Triebintegration verbunden ist und als gelingende Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses gilt.
Mariana Schütt: Auf den Spuren Freuds. Zur psychischen Eigenzeit bei Adorno:
Theodor W. Adorno hat sich im Rahmen seiner negativ-dialektischen Gesellschaftstheorie zeit seines Lebens mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds auseinandergesetzt. Die metapsychologischen Begriffe des Unbewussten und des Triebes dienen Adorno dazu, einen konstitutiven Spalt zwischen Subjekt und Gesellschaft zu formulieren. Etwas bleibt unverfügbar. In meinem Beitrag wird es nun darum gehen, einem bestimmten Motiv Adornos nachzugehen, welches ich mit dem Begriffspaar der psychischen »Eigenzeit« fasse. Das Subjekt geht nicht vollkommen im Gegenwärtigen auf. Ich werde dabei sowohl auf die onto- wie phylogenetische Dimension dieser spezifischen psychischen Temporalität verweisen und anschließend die Frage der Vermittlung diskutieren.
Karl-Abraham-Vorlesung:
Riccardo Steiner: Erste Versuche britischer Psychoanalytiker, die gesellschaftlichen Probleme ihrer Zeit zu analysieren:
Dies ist die gekürzte Version eines Beitrags, den ich für die Karl-Abraham- Vorlesung in Berlin im Mai 2018 geschrieben habe. Der Vortrag versucht, die Bedeutung der von mir so genannten »Berlin Connection« für die britischen Analytiker in den Zwanziger-, Dreißiger- und Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts hervorzuheben. Jones Gedanken zu Krieg und anderen sozialen Themen und insbesondere Glovers berühmtes Buch über ›Krieg, Sadismus und Pazifismus‹ sind eng mit Berlin und besonders mit der Arbeit von Abraham verbunden. Fenichels polemische Auseinandersetzungen mit Glover und ihre verborgenen komplexen Implikationen werden benannt und untersucht. Durch die Art und Weise, wie Klein Abrahams Arbeit aufnahm und entwickelte, versuche ich zu zeigen, dass die »Berlin Connection« sogar für die Arbeiten von Money-Kyrle und anderen zu sozialen und politischen Themen in der Nachkriegszeit von Bedeutung war. Noch heute unterstützt die Bezugnahme auf die in dieser Arbeit behandelten Themen den Versuch, Krieg, Rassismus, Emigration und andere soziale Themen mit Hilfe der Psychoanalyse zu verstehen.weiterlesen