Kunstpädagogische Primitivismen
Studien zu einem transnationalen Dispositiv
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand im Kontext der europäischen und US-amerikanischen bürgerlichen Reformbewegungen die deutschsprachige Kunsterziehungsbewegung, welche insbesondere in der Zeit zwischen 1901 (erster
Kunsterzieherkongress in Dresden) und der Machtergreifung durch die Nationalsozialist_innen 1933 ihre Diskursproduktion entfaltete. Wie die westliche bürgerliche Reformpädagogik insgesamt, zeichnete sie sich durch eine Zentrierung der Figur des Kindes aus, das befreit werden sollte: weg vom Drill geometrischen Zeichnens, hin zum „freien Ausdruck“. Die Grundlage für diese Programmatik bildete eine Rekonzeptualisierung der Zeichen- und Malpraktiken in der Kindheit, an der neben der Kunst/Pädagogik auch die Psychologie und die Anthropologie/Biologie/Ethnologie/Eugenik beteiligt waren.
Die Programmatik der westlichen Reformbewegungen (im englischen Sprachraum: progressive movements) der Befreiung des Kindes, der Befreiung der Körper und des Geistes (materialisiert durch Praktiken wie z.B. Reformkleidung, Nudismus, Vegetarismus, Ausdruckstanz, Rhythmik und rhythmische Gymnastik, Aneignung von fernöstlicher Spiritualität/Theosophie/Esoterik) formierte sich in einer Hochzeit des Kolonialismus, der Versklavung und des massiven Widerstands dagegen.
Den Beiträgen des Sammelbands unterliegt die grundsätzliche Frage: Was bedeuten die aus der Bedingung der Kolonialität erwachsenden Spannungsverhältnisse für die Geschichte, für die Praktiken und Diskurse der deutschsprachigen und transnationalen Kunst/Pädagogik?
Der Sammelband analysiert anhand von Fallstudien die ambivalente und komplexe Geschichte der deutschsprachigen und transnationalen progressiven Kunstpädagogik und befragt sie nach den historischen Kontinuitäten in der Gegenwart. Momente der Verwendung, des Wiederauftauchens und der Verschiebung von primitivistischen Konzepten und Praktiken in der transnationalen progressiven Kunst/Pädagogik werden unter der Fragestellung rekonstruiert, ob und wie ihr Fortdauern und Wiederauftauchen auf verschiedene Notstände in verschiedenen historischen Momenten Antworten bot; wie sie zu unterschiedlichen historischen Momenten ökonomisch wie ideell befördert und handelnd gestaltet wurden, um Hegemonie zu erringen, zu verunsichern und wiederum zu stabilisieren.
Der Sammelband operiert mit einem transnationalen Ansatz, der an der historischen Rekonstruktion von bislang unterbelichteten Austauschbeziehungen und an der Wanderung von Konzepten interessiert ist. Mit diesem Fokus und dieser Perspektive überschreitet er den in der deutschen historischen Kunstpädagogik üblichen Rahmen. Letztere tendiert bislang dazu, sich vor allem mit deutschsprachigen Quellen und Referenzen zu befassen und dabei die internationale Wisssensproduktion (unter anderem der anglophonen German Studies, die sich unter anderem auch der deutschsprachigen Ästhetik und Kunst/Pädagogik beschäftigen) zu ignorieren. Mit dem kolonialitätskritischen transnationalen Ansatz schließt der Band an das Forschungsprojekt „Intertwining Hi/Stories of Art Education“ des Netzwerks „Another Roadmap for Art Education“ an, welches eine Auswahl seiner Ergebnisse 2019 in einer Ausgabe des eJournals „Art Education Research“ veröffentlicht hat. Es ist geplant, einige der Texte aus diesem Journal für den Sammelband zu aktualisieren.weiterlesen
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