Liszt Jahrbuch 2017/18
»Liszt und die Vokalmusik«
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Franz Liszts Kompositionen erklingen heute vor allem auf den Konzert-Podien von Pianisten, seltener schon im Orchesterkonzert, äußerst selten in kammermusikalischen und kaum bis gar nicht in vokalmusikalischen Kontexten, etwa in Liederabenden,Chorkonzerten oder gar in der Kirchenmusik. Zunächst und vor allem ist das allgemeine Bild des komponierenden Liszt mit dem stupenden Klaviervirtuosen verbunden, zu sehr gelten seine Klavierwerke als Ausweise künstlerischer
Meister- und Höchstleistungen sowie anspruchsvolle Prüfsteine in internationalen Wettbewerben.
Paradoxerweise wird damit ein Komponist, der die Virtuosenkarriere und das Komponieren solistischer Präsentierstücke bewusst aufgab, um ›echte Musik‹ zu komponieren und ein ›echter Künstler‹ zu werden, im heutigen Konzertleben wiederum häufig auf eben diese pianistische Virtuosenmusik reduziert.
Dabei scheint bei einem genaueren Blick weniger die Gattungs- oder Virtuosenfrage, sondern vor allem jener Aspekt bemerkenswert zu sein, dass Liszt in seinen über 1.100 komponierten und über 40 weiteren, geplanten Werknummern in vielerlei Hinsicht seine poetisch-musikalische Natur – aufgespannt stets zwischen Literatur, Kunst und Musik – durchscheinen lässt: Sei es in der orchestralen Programmmusik, mit der er eine »innige Verbindung von Poesie und Musik
« anstrebt und die thematisch ganz existenziellen Aspekte des Künstlertums akzentuiert, sei es in den
zahlreichen außermusikalisch inspirierten Instrumentalstücken (auch und vor allem für Klavier), die Atmosphären, Geschichten, Tageslaunen und Lebensstationen subtil einfangen, ohne an formaler Eigengesetzlichkeit einzubüßen, oder sei es in der in diesem Band thematisierten Vokalmusik, die ein enormes Spektrum von beinahe plakativer Autobiographik bis liturgisch oder national inszenierter Universal-Fiktion umspannt: Oft waren die Liszt inspirierenden Texte und Materialien mehr als nur schaffenspsychologische Hilfsmittel für das Errichten einer autonomen musikalischen Werkgestalt, Hilfsmittel, die nach Gebrauch achtlos zurückgelassen wurden.
Das Gegenteil ist der Fall: Vielfach scheinen die verarbeiteten Texte und Materialien noch durch die Musik hindurch, sind ihr geradezu inhaltsästhetisch eingeschrieben. Weniger das Kreieren eines berührungslosen, weltenthobenen Kanons aus ›Meisterwerken‹ wird daher für Liszt im Fokus gestanden zu haben, denn das in Musik gegossene Amalgam aus Existenzialität, Intertextualität und Referenzialität, gleichsam ein viele Kunstgebiete überwölbendes, bis in gesellschaftliche
Diskurse hineinragendes Meta-Programm, das in seinen Ursprüngen und in seinem Anspruch zutiefst
romantisch ist.
Dass diese weitgespannte, programmatische Kunstidee auf dem Gebiet der Vokalmusik, die gemeinhin mit und von Texten handelt, besonders ausgeprägt ist, ist einleuchtend. Entsprechend können die sieben Beiträge des Bandes ganz unterschiedliche Lichter auf das Genre des Vokalen bei Liszt werfen und Erhellendes zum thematischen Rahmen beitragen.
Dorothea Redepenning (Heidelberg) konzentriert sich auf das Verhältnis von vokaler und instrumentaler Gedichtvertonungen am Beispiel der Drei Zigeuner (1860) nach Lenau, um zu neuen Erkenntnissen über die Mechanismen von melodramatischer Vokalität in Instrumentalparts zu gelangen, nicht ohne zugleich Liszts musikalisch-emotionales ›Ungarn‹-Bild zu diskutieren.
Małgorzata Gamrat (Warschau) erläutert am Beispiel zweier Béranger-Vertonungen der 1840er Jahre, wie Liszts Wanderjahre als Virtuose nicht nur seine Textauswahl, sondern auch symbolstarke Selbstzitationen autobiographisch motiviert haben, so dass die derart multiperspektivisch angereicherten Lieder weit mehr sind als bloße ›Vertonungen‹.
Michael Heinemann (Dresden) knüpft daran an, indem auch er eine Liedkomposition (Tristesse nach
Musset, 1872) autobiographisch liest. Darüber hinaus kann er in der Bezugskategorie Komponist–Werk noch als dritte Perspektive jene des Interpreten am Klavier erkennen, so dass die leiblich-performative Dimension des mit dem Publikum interagierenden Künstlers Teil der Werkrealität wird.
Nicolas Dufetel (Paris) wendet sich der Gregorianik-Rezeption Liszts im Oratorium Christus (1860er) zu, in der er – gestützt durch ein breites Panorama Listz’scher Schriften und Lektüren sowie eine Analyse seiner Skizzen – eine eigenwillige, zu einem historistischen Ideal konträr stehende Modernitätsidee intertextueller Prägung erkennen kann.
Benedikt Leßmann (Wien) bleibt der Rolle des gregorianischen Chorals für Liszt auf der Spur und kann in der oft kritisierten und unverstandenen Kirchenmusikästhetik Liszts den universalistischen, romantisch grundierten Anspruch offenlegen, eine modal-tonale Synthese aus Choral, Palestrina-›Stil‹ und zeitgenössischer Harmonik formen zu wollen.
Stefan Menzel (Weimar-Jena) untersucht die Projektierung und Konzeption der Legende von der Heiligen Elisabeth (1850er/60er Jahre) und erkennt in der Synthese aus Modalität, Kadenzmetrik und Fugentechnik eine geschichtsoffene, dabei anti-teleologische, wiederum universalistische Konzeption.
Michael Chizzali (Weimar-Jena) schlägt den Bogen an den Beginn des Bandes zurück, indem er das Melodram Der blinde Sänger (1874/75) als Vokal- und Klavierfassung mit Blick auf die semantischen Potenziale des Orpheus- und Ossian-Materials befragt.weiterlesen
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